Wall Street verliert den Glauben an sich selbst
Wall Street verliert den Glauben an sich selbst
Führende Trading-Häuser streichen Kapitalmarktprognosen zusammen – Rezessionssorgen lasten trotz sanfteren Tönen im Zollstreit auf Stimmung
Trotz der jüngsten Erholung hält sich am US-Aktienmarkt massive Verunsicherung. Die grundoptimistischen Wall-Street-Banken haben ihre Kursprognosen für den S&P 500 zusammengestrichen, die sorgenvollen Blicke richten sich nun auf die anstehenden Zahlenvorlagen der Tech-Riesen.
xaw New York
Die Furcht vor einer Rezession in den Vereinigten Staaten raubt auch den größten Berufsoptimisten der Wall Street ihr Selbstvertrauen: Zahlreiche führende amerikanische Banken haben ihre Kapitalmarktprognosen für das laufende Jahr in den vergangenen Wochen zusammengestrichen. Denn auch wenn US-Präsident Donald Trump den Großteil seiner „reziproken“ Zölle gegen Handelspartner kurz nach deren Einführung für 90 Tage ausgesetzt und gegenüber China zuletzt sanftere Töne angeschlagen hat, hält sich massive Unsicherheit: Während das Weiße Haus darauf besteht, Verhandlungen mit Peking zu führen, dementieren Offizielle aus dem Reich der Mitte Berichte über Gespräche mit Washington und zeigen sich bereit zu einem lang anhaltenden Handelskrieg.
Düstere Ausblicke
Die Analysten von Goldman Sachs haben ihre Kursprognosen für den S&P 500 in der Folge beispielsweise schon mehrfach heruntergeschraubt. Im Januar sahen sie die marktbreite US-Benchmark zum Ende des laufenden Jahres noch bei 6.500 Punkten, im März senkten sie den Zielwert angesichts eingetrübter Aussichten für das amerikanische Wirtschaftswachstum auf 6.200 Punkte. Kurz darauf und nachdem Trump seine Zölle von 25% auf Automobilimporte verkündete, strichen sie die Vorhersage auf 5.700 Punkte zusammen, gegenüber dem zum Abschluss der alten Handelswoche erreichten Niveau würde dies nur noch einen Anstieg um 3% bedeuten.

Dabei verweisen die Analysten um David Kostin, Chefstratege von Goldman für den US-Aktienmarkt, auch auf einen erwarteten Anstieg der Kerninflation auf 3,5%, der damit stärker ausfallen würde als zuvor modelliert. Allerdings geben sie noch nicht einmal die düstersten Prognosen an der Wall Street ab: Die Kapitalmarktsparte von Bank of America sieht den S&P 500 zum Jahresende nur noch bei 5.600 Punkten, nachdem sie zuvor noch 6.666 Zähler prognostiziert hatte. J.P. Morgan sagt indes lediglich 5.200 Punkte voraus und zeigt sich damit als pessimistischstes der führenden Geldhäuser.
Nachhaltigere Abschläge
Die Schätzungen gehen dabei Hand in Hand mit schwächeren Prognosen der Kollegen aus dem Makro-Research, J.P. Morgan hat die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in den Vereinigten Staaten Anfang April beispielsweise von 40 auf 60% angehoben. Goldman Sachs mahnt, dass kurzfristig noch Potenzial für weitere Rückschläge besteht und Investoren einen „verbesserten Wachstumsausblick und mehr Asymmetrien in den Aktienbewertungen“ abwarten sollten, bevor sie sich für eine Bodenbildung an den Märkten positionierten.
Abschläge der Kurs-Gewinn-Verhältnisse infolge eines Anstiegs politischer Unsicherheit seien üblicherweise zwar kurzlebig, betonen Kostin und Konsorten. So habe der S&P 500 nach den 21 Korrekturen von über 10% seit 1980 auf Jahresfrist einen durchschnittlichen Return von 13,7% geliefert – allerdings nur, wenn eine Rezession in diesen zwölf Monaten ausgeblieben sei. Andernfalls habe der Zuwachs in diesem Zeitraum lediglich 0,6% betragen. Aktuell sei ein anhaltender Druck auf die Bewertungen wahrscheinlich. Auch Jamie Dimon, CEO von J.P. Morgan, brachte mit den Worten „das hier ist anders“ die Sorge zum Ausdruck, dass Trumps protektionistische Handelspolitik die USA in eine Finanzkrise stürzen werden, von der sich die Wall Street wohl nicht so schnell erholen könne wie von vergangenen Verwerfungen.
Furcht vor Abwärtsspirale
Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) macht „Verwundbarkeiten“ aus, die für einen weiteren Abwärtstrend der Finanzstabilität sprächen. So fielen die Bewertungen trotz des jüngsten Tumults in „Schlüsselsegmenten“ des Aktien- und Unternehmensanleihemarkts nach wie vor hoch aus. An der Wall Street würden Dividendenpapiere auch nach dem durch die Strafzölle losgetretenen Abverkauf zu Kurs-Gewinn-Verhältnissen gehandelt, die höher ausfielen als in drei Vierteln der vergangenen 35 Jahre. Die Risikoprämien von US-Aktien gegenüber Bonds hätten sich zwar ausgeweitet, befänden sich in historischem Vergleich aber auf niedrigem Niveau.

Unterdessen setze die verschärfte Volatilität an den Märkten Finanzinstitute unter Druck – insbesondere jene mit hohem Leverage. Im Gleichschritt mit den verwalteten Mitteln der Hedgefonds- und Assetmanagement-Branche seien auch ihre Verschuldungsgrade und Vernetzungen mit dem traditionellen Finanzsektor gewachsen. Tatsächlich ist das Volumen der Kredite, die Banken an Intermediäre ohne Einlagengeschäft vergeben, laut der Ratingagentur S&P Global 2024 erstmals auf über 1 Bill. Dollar geklettert.
Zuletzt mussten Hedgefonds den umfangreichsten Margin Calls, also Nachschusspflichten auf Kredite, nachkommen seit dem Corona-Crash. Der IWF warnt vor einer „Deleveraging-Spirale“, in deren Zuge die Schieflage von Risiko-Vehikeln den Abverkauf an den Märkten zu beschleunigen und das Finanzsystem auf die Belastungsprobe zu stellen drohe.
Gewinnentwicklung im Fokus
Im bisherigen Jahresverlauf liegt der S&P 500 trotz der jüngsten Erholung noch mit nahezu 6% im Minus, der Nasdaq 100 Stand Montagvormittag New Yorker Zeit mit rund 7,5%. Vergangene Krisen lassen unterdessen noch Potenzial für größere Rückschläge erkennen, wie Analysten betonen. Der Drawdown der marktbreiten US-Benchmark, also der maximale Absturz nach dem höchsten erreichten Kursniveau, liegt im Median seit 1980 bei 10%. Das Gefälle zwischen dem höchsten und niedrigsten Stand des S&P 500 beläuft sich in diesem Jahr indes auf 17,8% – in Jahren großer Marktcrashs wie 1987, 2008 oder 2020 kam es aber noch zu weit härteren Abstürzen.

Ob die US-Börsen nach der jüngsten Gegenbewegung tatsächlich schon einen Boden bilden, hängt neben den ökonomischen Aussichten laut Analysten auch entscheidend vom weiteren Verlauf der Berichtssaison ab. Der Datenanbieter LSEG war vor Beginn des Zahlenreigens zum ersten Quartal davon ausgegangen, dass die aggregierten Gewinne im S&P 500 zum Vorjahr lediglich um 7,8% zulegen würden und damit so schwach wie seit dem Schlussviertel 2023 nicht. Gegenüber dem Zeitraum zwischen Oktober und Dezember 2024 ließ die ermittelte Konsensprognose gar einen Einbruch um 9% erwarten und damit den heftigsten Rücksetzer seit dem Corona-Crash 2020.
Doch wie der Datendienst Factset betont, haben 73% der S&P-500-Mitglieder, die bisher die Bücher geöffnet haben, die Gewinnerwartungen der Wall Street übertroffen. Zu den großen Treibern gehören dabei die US-Banken selbst, deren Tradern der Sprung der Marktvolatilität einen Geldregen beschert – sowie die Google-Mutter-Alphabet, die trotz Unsicherheit um den Einfluss von Trumps Zöllen auf ihr Werbegeschäft mit höheren Einnahmen aus ihrer Suchmaschine punktet.
Sorgen um Big Tech
Allerdings stehen Ergebnisse von 64% der S&P-500-Unternehmen noch aus – die sorgenvollen Blicke der Investoren richten sich dabei auf die anderen Tech-Konzerne um Meta Platforms, Microsoft, Amazon und insbesondere die von einer anhaltenden Schwäche im China-Geschäft geplagten Apple. Factset gibt derweil zu bedenken, dass eine wachsende Zahl an Unternehmen für das zweite Quartal einen negativen Gewinntrend in Aussicht stellt. Während Franklin Templeton die US-Wirtschaft für widerstandsfähig hält, besitze die Trump-Regierung „eine hohe Toleranz gegenüber Schmerzen an den Aktienmärkten“. Die schlimmsten Effekte der Handelspolitik Washingtons auf die Unternehmensgewinne und damit auch das Selbstvertrauen der Wall Street dürften laut Analysten also erst noch bevorstehen.