Aktien

Wundenlecken an der Schweizer Börse

Seine defensiven Eigenschaften haben den Schweizer Aktienmarkt in diesem Jahr nicht davor bewahrt, in den Sog der globalen Baisse zu geraten. Im zweiten Halbjahr könnten sie sich jedoch auszahlen.

Wundenlecken an der Schweizer Börse

Von Daniel Zulauf, Zürich

„Da draußen ist ein Hurrikan und er kommt auf uns zu“, ließ sich Jamie Dimon, Chef der größten US-Bank J.P. Morgan vor ein paar Wochen medienwirksam vernehmen. Er ahnte, dass die Notenbank der galoppierenden Inflation nicht länger tatenlos zuschauen würde. Am 15. Juni handelte die Federal Reserve und erhöhte den Leitzins gleich um 75 Basispunkte. Die Schweizerische Nationalbank folgte am Tag darauf mit einer Anhebung um 50 Basispunkte. Das waren die letzten Tiefschläge für die Aktienmärkte in einem denkwürdigen ersten Halbjahr.

Die anhaltenden pandemiebedingten Unterbrechungen der globalen Lieferketten, wie sie in den heillos verstopften Häfen in China eindrücklich sichtbar wurden, haben die schon im Vorjahr aufgetretenen Engpässe etwa bei den in vielen Industriegütern eingesetzten Mikrochips verlängert und gar noch verschärft. Die russische Invasion der Ukraine führte ab Ende Februar zu einer unvermittelten Verknappung wichtiger Energieträger und Grundnahrungsmittel.

Die weltweit stark gestiegenen und weiter steigenden Inflationsraten sind die direkte Folge dieser Entwicklungen. Sie zwingen die Notenbanken, die Zinsen drastisch anzuheben, und das in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft bereits deutliche Schwächezeichen zu erkennen gibt. Keine namhafte Börse blieb verschont, auch nicht die schweizerische, die sich in Krisenzeiten typischerweise positiv von anderen Märkten abzuheben pflegt. Der Swiss-Performance-Index, der die Kursentwicklung aller 217 an der Schweizer Börse notierten Aktien repräsentiert, hat seit Jahresbeginn gut 15,6% verloren, der Swiss Leader Index (30 Werte) 20,3%. Der Verlust entspricht ziemlich genau dem in Franken gerechneten Minus des Weltaktienindex. Weniger als ein Fünftel der Schweizer Titel konnten sich im positiven Territorium behaupten. Blue Chips, Mid Caps, Small Caps – die Baisse hat sie alle erfasst, egal welcher Gewichtsklasse die Unternehmen angehören.

Keinen Schutz für die Investoren boten auch Aktien von Unternehmen mit defensivem Anlageprofil. Die Genussscheine des Basler Pharmamultis Roche tauchten mit einem Minus von 15,5% seit Jahresbeginn fast gleich tief ab wie der Gesamtmarkt, obschon der Konzern seit Jahren mit ungemein hohen und stabilen Gewinnen zu glänzen vermag und sich mit seinen weltweit heiß begehrten Covid-Tests als großer Profiteur der Pandemie erwies. Der Kurseinbruch der Roche-Titel steht beispielhaft für ein Phänomen, das Anastassios Frangulidis, Chefstratege im Assetmanagement bei der Genfer Privatbank Pictet, als „Bewertungskorrektur“ beschreibt.

Mit der Aussicht auf steigende Zinsen schmilzt der Barwert künftiger Unternehmensgewinne, wie sie Fi­nanzanalysten in ihren Unternehmensbewertungsmodellen bei Unternehmen wie Roche oder Nestlé auf viele Jahre hinaus einkalkuliert haben. Es handelt sich um einen rein arithmetischen Vorgang: So wie der Zinseszinseffekt das jetzt auf dem Bankkonto liegende Kapital eines Sparers progressiv anwachsen lässt, wenn die Zinsen steigen, geschieht das Umgekehrte, wenn die gleiche Formel angewandt wird, um den Wert der in der Zukunft liegenden Gewinne in die Gegenwart zurückzurechnen. Eine ähnliche Bewertungskorrektur wie Roche hätte wohl auch die Novartis-Aktie über sich ergehen lassen müssen, wenn der Konzern seit Jahresbeginn nicht fast 5 Mrd. sfr in den Rückkauf eigener Aktien investiert hätte und den Kurs so zu stabilisieren verstand.

Zu den Nutznießern höherer Zinsen gehören im Prinzip die Aktien von Versicherungsunternehmen. Ihnen winkt eine bessere Rendite ihrer umfangreichen Kapitalanlagen. Allerdings führt der Inflationsanstieg auch zu höheren Leistungsverpflichtungen. Offensichtlich gehen die Investoren im Fall der Zurich Insurance aber davon aus, dass der Konzern diesen Effekt durch Prämienerhöhungen ausgleichen kann, weshalb der Titel im Performancevergleich an oberster Stelle steht (+4,9%).

Unter den größten Verlierern befinden sich mehrheitlich Aktien von Industriefirmen, die stark vom Konjunkturverlauf abhängig sind. Ein Spezialfall sind die Titel der auf sogenannte Privatmarktanlagen spezialisierten Partners Group. Anlagen in nicht öffentlich handelbaren Aktien und Schuldpapieren waren in den Nullzinsjahren der große Renner bei vielen Großinvestoren, weil sie überdurchschnittliche Renditen versprachen. Mit der sich nun rasch normalisierende Zinslandschaft erhalten Privatmarktanlagen wieder starke Konkurrenz von klassischen Anlageprodukten, was die Wachstumsaussichten von Partners Group nachhaltig beeinträchtigen könnte. Die Aktie liegt seit Jahresbeginn mit 43% im Minus.

Die zyklischen Aktien haben in den zurückliegenden Wochen besonders stark nachgegeben, was sich mit zu­nehmenden Rezessionsbefürchtungen der Investoren erklären lässt. Investmentstratege Anastassios Frangulidis geht davon aus, dass die zu erwartenden Gewinnrückgänge bei diesen Unternehmen noch nicht vollständig in den aktuellen Aktienkursen enthalten sind. Er rechnet damit, dass es in der Ende Juli anlaufenden Berichtssaison zu den Halbjahres­zahlen zu Enttäuschungen und weiteren Kursrückschlägen bei zyklischen Werten kommen wird.

Abgeschlossene Korrektur

Gleichzeitig verweist er auf die Kursentwicklung der defensiven Werte wie Roche, Nestlé oder Givaudan, die sich seit Anfang Juni besser als der Gesamtmarkt halten. „Das ist kein Zufall“, glaubt Frangulidis. Nach seiner Auffassung ist die Bewertungskorrektur in diesen Papieren inzwischen weitgehend abgeschlossen. Zwar erwarten die Marktteilnehmer in den nächsten zwölf Monaten einen weiteren steilen Anstieg der Notenbank-Leitzinsen auf 1,3% in der Schweiz und sogar auf 3,5% in den USA. Doch erfahrungsgemäß bremsen rezessive Tendenzen den Anstieg der langfristigen Zinsen, während die Renditen von Anlagen mit kürzeren Laufzeiten von zwei bis drei Jahren weiter steigen – ein Phänomen, das in den Vereinigten Staaten schon seit April beobachtet wird.

In einem solchen Szenario kommen die Qualitäten defensiver Aktien typischerweise wieder stärker zum Tragen, was nach Frangulidis’ Ansicht dazu führen könnte, dass der Schweizer Aktienmarkt im zweiten Halbjahr im internationalen Vergleich besser abschneiden wird. Relativ besser bedeutet freilich noch nicht gut. Die goldenen Zeiten für Aktienanleger scheinen auch in der Schweiz einstweilen vorüber zu sein.

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