Jens Eisenschmidt, Morgan Stanley

„Auf das Eurosystem kommen 2023 etwa 40 Mrd. Euro Verluste zu“

Die EZB-Politik hält Finanzmarktteilnehmer, Ökonomen und Politiker gleichermaßen in Atem. Im Interview äußert sich Jens Eisenschmidt, Europa-Chefvolkswirt bei Morgan Stanley und Ex-EZB-Ökonom, zu den Entwicklungen.

„Auf das Eurosystem kommen 2023 etwa 40 Mrd. Euro Verluste zu“

Mark Schrörs.

Herr Eisenschmidt, trotz zunehmender Rezessionswahrscheinlichkeit will die EZB ihre Leitzinsen weiter anheben, wahrscheinlich sogar in den restriktiven Bereich, der die Wirtschaft aktiv bremst. Ist das angesichts der Rekordinflation alternativlos oder überzieht die EZB bereits?

Das ist der Kern der Debatte: Wie weit muss die Zentralbank gehen, um die Inflation wieder zurück zur Zielmarke von 2% zu bringen? Die aktuelle EZB-Kommunikation ist da eindeutig: Der erwartete Abschwung allein reicht nicht, die Zinsen müssen in den restriktiven Bereich hinein erhöht werden. Das ist auch schon so eingepreist, die Geldpolitik wirkt also bereits restriktiv. Die langfristigen Inflationserwartungen geben der EZB recht mit diesem Kurs, es gibt da weder einen Ausbruch nach oben noch nach unten.

Wo sehen Sie aktuell den sogenannten neutralen Zins im Euroraum und was halten Sie von Pro­gnosen, dass die EZB-Leitzinsen in Richtung 4% oder mehr steigen müssen, um die Inflation zu dämpfen?

Wir denken, dass der Einlagenzinssatz im März auf 2,5% steigen wird – was aus unserer Sicht oberhalb des neutralen Zinsniveaus ist. Es gibt eigentlich kaum Szenarien, in denen wir eine geringere Zinsanhebung er­warten würden, und doch einige mit einer stärkeren Erhöhung. Eine Anhebung deutlich über 3% hinaus halten wir jedoch für sehr unwahrscheinlich. Dafür ist die wirtschaftliche Dynamik des Eurogebiets einfach zu schwach. Demografie und Produktivitätsfortschritt sind wachstumsdämpfende Faktoren, die hier klar den Trend angeben.

Die große Sorge der EZB gilt einer Entkopplung („Entankerung“) der Inflationserwartungen vom EZB-Ziel und einer Lohn-Preis-Spirale. Die jüngsten Tarifabschlüsse in Deutschland fallen indes moderat aus. Ist die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale damit bereits ge­bannt oder ist es dafür noch zu früh?

Die Situation ist heute eine andere als in den 1970er Jahren. Alle Akteure haben dazugelernt, die Geldpolitik ist institutionell unabhängiger und es gibt wenig Zweifel, dass sie ihr Inflationsziel auch erreichen wird. Die aktuellen Abschlüsse passen in dieses Bild. Gleichzeitig rechnen wir mit einem Aufholprozess, also mit Lohnabschlüssen oberhalb von Inflation und Produktivitätswachstum in den nächsten Jahren – was die Inflation insgesamt länger über 2% verharren lassen wird.

Aus dem EZB-Rat mehren sich kritische Stimmen, dass die Maßnahmen der Euro-Politik gegen die Energiekrise das Inflationsproblem noch verschärfen. Wie beurteilen Sie das – insbesondere auch mit Blick auf den deutschen 200-Mrd.-Euro-Abwehrschirm?

Eine aktive Fiskalpolitik ist geboten im Moment, aber es mangelt an Zielgenauigkeit, insbesondere bei den Maßnahmen aus dem Frühjahr 2022. In der Tendenz führt das zu einem stärkeren Nachfragestimulus als unbedingt geboten, was die Aufgabe der Geldpolitik erschwert. Die Mahnungen sind also verständlich. Alle Politikbereiche sind jedoch mit enormer Unsicherheit konfrontiert, und so lese ich die Entscheidung für den 200-Mrd.-Euro-Schirm. Man möchte auf alles vorbereitet sein und die Verunsicherung begrenzen. Das hilft der Stabilisierung der Wirtschaft und damit auch der Geldpolitik.

Bei der ersten Möglichkeit zur vorzeitigen Rückzahlung langfristiger EZB-Hilfen (TLTRO) haben sich die Banken überraschend zögerlich gezeigt – statt der im Schnitt erwarteten 600 Mrd. Euro wollen sie nur knapp 300 Mrd. Euro zurückzahlen. Wie erklären Sie sich das?

Die 300 Mrd. sind am unteren Rand unserer Schätzungen. Es gibt aber noch die Möglichkeiten zu Rückzahlungen im Dezember und Januar. Wir rechnen da insgesamt mit 283 Mrd. Euro. Ein Teil der Überraschung ist vielleicht einfach dem Zeitfaktor geschuldet. Die Banken haben keine Eile mit der Rückzahlung.

Was bedeutet das geringe TLTRO-Rückzahlungsvolumen für den EZB-Kurs? Muss die EZB jetzt zum Ausgleich aggressiver sein bei den weiteren Zinserhöhungen und dem avisierten Abbau der aufgeblähten EZB-Bilanz?

Die Rückzahlungen sind eine eigene Kategorie. Wenn Banken das Geld vorzeitig zurückzahlen, obwohl es immer noch günstig ist, dann weil sie es für ihre Refinanzierung nicht brauchen. Auf der Ebene der Bank sollte dies also erst einmal keine Auswirkung haben. Sehr hohe Rückzahlungen können aber Externalitäten haben. Sie verändern die Marktsituation und führen zum Beispiel zu steigenden Interbankzinsen. Es ist also Abwarten angesagt, wie viel im Dezember und Januar noch zurückgezahlt wird. Aber auch wenn die Rückzahlungen am Ende höher ausfallen: Der Zeitrahmen und die Vorgehensweise beim anstehenden Abbau des Bondportfolios ist davon losgelöst zu betrachten.

Wann sollte die EZB denn mit dem Bilanzabbau beginnen und wie sollte sie dabei vorgehen? Wird die Bilanz des Eurosystems künftig dauerhaft höher sein als in der Vergangenheit?

Der Grund für das APP, Deflationsgefahren zu bekämpfen, ist weggefallen. Damit steht natürlich auch die Wiederanlage der Anleihen auf dem Prüfstand, schließlich sorgt sie dafür, den Stimulus, der vom Anleihebestand ausgeht, aufrechtzuerhalten. Die EZB hat Entscheidungen dazu im Dezember in Aussicht gestellt. Es wird wohl ein sehr gradueller Einstieg in den Ausstieg werden, also zum Beispiel eine Wiederanlage von 75% der auslaufenden Anleihen für eine Zeit, dann 50% und so weiter. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die EZB auch auf längere Sicht einen ge­wissen Anleihebestand halten wird. Der Banknotenumlauf ist stark gestiegen, die Banken fragen Überschussliquidität nach und es wird wohl keine Rückkehr zum Korridorsystem geben.

Durch die Zinswende drohen auch den Euro-Notenbanken Verluste. Wie problematisch ist das für die EZB und wie sehr beeinflusst das ihre Fähigkeit, die Inflation wieder auf 2% zu drücken?

Die zu erwartenden Verluste sind die Kehrseite der Gewinne der Niedrigzinsphase, sowohl für die Zentralbanken, aber auch für die Staaten. Überschlägig kommen nächstes Jahr etwa 40 Mrd. Euro an Verlusten auf das Eurosystem zu. Gemessen an der Stärke der Bilanz und den zukünftigen Gewinnen fällt das nicht ins Gewicht und sollte die EZB von nichts abhalten.

Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass es durch die rasche Zinswende und den Abbau der EZB-Bilanz zu Finanzierungsproblemen bei Euro-Staaten wie Italien kommt? Droht gar eine Euro-Krise 2.0?

Kurzfristig sehen wir keine Staatsschuldenkrise. Aber der Ball ist klar im Feld der Politik. Die Verhandlungen zum Stabilitätspakt ab 2024 sind gerade angelaufen. Der EU-Wiederaufbaufonds NGEU ist da eine interessante Blaupause, weil positive Anreize für Reformen gesetzt werden anstelle von Sanktionen. Schwaches Wachstum bleibt dabei die Hauptsorge. Ohne Impulse in diesem Bereich wird es sehr schwer, die Staatsschuldenquoten spürbar zu senken.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni haben bereits öffentlich Kritik an der EZB-Straffung geäußert. Wie gefährlich ist das für die EZB und sehen Sie die Unabhängigkeit der EZB akut in Gefahr?

Ich bin da gelassen. Die EZB ist formal die wohl unabhängigste Zentralbank der Welt. Es bräuchte Mehrheiten in allen Mitgliedstaaten für eine Vertragsänderung. Die Mitglieder des EZB-Rats nehmen ihren Auftrag sehr ernst. Die Inflation ist weit über dem Zielwert. Preisstabilität in der mittleren Frist muss gewahrt werden. Die Kritik wird vernommen und die Karawane wird weiterziehen.

Die Fragen stellte

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