Außenseiter Deutschland
Der Rückzug von Linde von der Frankfurter Börse gilt als schwerer Schlag für den heimischen Kapitalmarkt, zumal aus dem Investorenumfeld vielfach Verständnis dafür geäußert wurde, dass der bisher schwerste Wert im Dax Hürden für die Wertentwicklung als Hauptgrund für die Entscheidung anführt. Dies lässt die Befürchtung aufkommen, dass Linde Nachahmer findet, und es ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die seit langem nach Reformen rufen, um die Aktienkultur zu fördern und damit auch die Größe des Kapitalmarkts in Deutschland.
Zankapfel Kappungsgrenze
Während die Bundesregierung mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz auf steuerliche und andere Reformen setzt, um mehr Kapital in Aktien zu lenken, haben sich gerade die Investoren selbst zuletzt als eher reformunwillig präsentiert. Bei der Abstimmung über eine Anhebung der sogenannten Kappungsgrenze, also des Wertes, bei dem die Deutsche Börse das Indexgewicht eines einzelnen Dax-Wertes bei jeder Neuberechnung des Index begrenzt, sprachen sich die institutionellen Anleger zu mehr als 60% dagegen aus, diese von 10% auf 15% zu erhöhen. Die Unternehmen selbst waren mehr oder minder einhellig dafür, wie die Marktkonsultationen im vergangenen Juni ergaben. „Als Grund für die Kappungsgrenze wird insbesondere von Investorenseite die gebotene Risikodiversifizierung angesehen“, berichtet Norbert Kuhn, Leiter Unternehmensfinanzierung beim Deutschen Aktieninstitut (DAI). „Auch Assetmanager dürfen gemäß einer EU-Richtlinie nicht mehr als 10% eines aktiv gemanagten Fonds in einen Wert stecken“, erläutert er weiter. Daran wollten sich die Investoren insgesamt orientieren.
Linde hatte diese aus ihrer Sicht niederschwellige Kappungsgrenze explizit als Hemmschuh für die Wertentwicklung der Aktie angeführt; denn solange sich die Linde-Aktie besser entwickelt als der Dax, müssen auch Indexfonds, die den deutschen Leitindex abbilden, immer wieder Linde-Aktien verkaufen. Solche Gewichtsgrenzen sind indes nur bei europäischen Indizes üblich, im breit angelegten S&P-500-Index spielen sie zum Beispiel keine Rolle. „Mit dem Wert von 10% bildet Deutschland zudem im Vergleich größerer europäischer Börsen das Schlusslicht. In der Schweiz liegt die Kappungsgrenze bei 20%, in Frankreich bei 15%“, erklärt Kuhn.
Der Linde-Konzern hat hier den Finger in eine Wunde gelegt, die als so schmerzlich empfunden wird, dass ein Rückzug von der Deutschen Börse damit begründet wird. Der Fall unterstreicht indes nur an einem Beispiel mehr die Außenseiterposition Deutschlands unter den internationalen Kapitalmärkten. Sie zeigt sich noch deutlicher im Verhältnis der Marktkapitalisierung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese lag in Deutschland im vergangenen Jahr bei 61%, ein vergleichsweise kleines Land wie Schweden bringt es auf 227%, die Schweiz auf 250%, Frankreich lag bei 127%, sogar Spanien bei fast 90% und auch China schon bei rund 80%. Die Weltbörsen in London und New York bringen es auf eine Marktkapitalisierung von 108% bzw. 195% in Relation zum BIP.
Dies und die Bedeutung der beiden Börsen als weltgrößte Kapitalsammelstellen ist ein wesentlicher Grund für ihre Anziehungskraft für Unternehmen. Auch bei Linde, die sich nach dem Merger mit Praxair zunächst für ein Doppellisting in New York und in Deutschland entschieden hatte, dürfte dies ein Hauptgrund gewesen sein, sich ganz New York zuzuwenden. Denn der organisatorische und finanzielle Aufwand eines Doppellistings ist schon manchen Emittenten auf Dauer zu viel geworden – zumal dann, wenn eine der beiden Börsen Nyse oder LSE dabei war.
Notiz und Geschäft
„Die Unternehmen entscheiden sich bei der Börsennotiz dann gerne für den Standort, wo sie auch das meiste Geschäft machen“, weiß Frederik Frank, Director Shareholder Intelligence bei Standard & Poor’s (S&P). Das wären bei Linde die USA, wo der Konzern rund 30% seiner Einnahmen erzielt. Bei der Tui, die ihre Börsennotiz nach dem Merger mit Tui Travel nach London verlegt hat, spielte ebenfalls eine Rolle, dass dort ein Großteil des Geschäfts gemacht wird. In der Hauptsache fürchtete man aber, die dortigen Investoren zu verlieren, wenn nur eine Notiz in Frankfurt geblieben wäre.
Tatsächlich liefern Erhebungen zur Aktionärsstruktur im Dax nicht unbedingt Gründe dafür, dass die Unternehmen ihren Listing-Standort wechseln sollten, um mehr Kapital anzuziehen. Bei einer Vielzahl (16 von 35 Dax-Firmen) ist die Anzahl ausländischer Investoren, die überwiegend aus dem angelsächsischen und europäischen Raum kommen, seit 2010 gestiegen. Hinzu kommt, dass insbesondere amerikanische Anleger in den letzten Jahren regelmäßig zu den Top-Investoren gehörten, und zwar mit Abstand. Sie hielten zuletzt knapp 40% am Dax, wie die von S&P im Auftrag des Deutschen Investor Relations Verbands (DIRK) erstellte Studie zeigt. Es zeigt sich allerdings auch, dass einige Unternehmen von diesem Zuwachs augenscheinlich nicht profitierten. Namentlich Linde gehört im Elf-Jahres-Vergleich zu den großen Verlierern, mit −17% bei den ausländischen Investoren.
Großanleger handeln lokal
Allerdings ändert ein Umzug des Listings daran nach Einschätzung von Frank wenig. „Die großen aktiv gemanagten Fonds investieren lokal in Euro“, so der Manager. Demzufolge würden diese Anleger etwa SAP-Aktien durchaus sogar in Frankfurt handeln und nicht in New York, wo sich der Softwarekonzern als einer von wenigen im Dax noch ein Zweitlisting leistet. Obwohl fast ein Viertel der SAP-Aktien von US-Investoren gehalten werden, wird das Gros täglich über die Xetra-Plattform gehandelt, rund 800000 Stücke im Vergleich zu 325000 an der Nasdaq. Bei Linde machte das Handelsvolumen an der Nasdaq zuletzt nur etwas mehr als die Hälfte des Handels in Frankfurt aus, und zudem war das Volumen insgesamt nur bei rund 680000 Stücken. Da erschien ein Doppellisting wohl auch aus Liquiditätsgründen nicht mehr allzu interessant.
Der Lockruf der Wall Street hat tatsächlich bei deutschen Unternehmen oft ein enttäuschendes Echo gefunden. Um die Jahrtausendwende zog es viele Dax-Schwergewichte mit einem Zweitlisting ins vermeintlich gelobte Land. Nach anfänglicher Euphorie kam dabei schnell die Ernüchterung. Die dortigen Investoren nahmen jene Unternehmen, deren Geschäftsanteil in den USA kein Übergewicht hatte, kaum wahr. Selbst SAP hatte als Softwarekonzern im Mutterland der Software einen schweren Stand. Allianz, Bayer, Eon, Deutsche Telekom und auch Daimler traten bald den Rückzug an oder wichen aus auf sogenannte „Unsponsored ADRs“. Diese Titel ermöglichen den Handel an der Wall Street ohne die umfänglichen teuren Berichtspflichten und den sonstigen Aufwand eines dualen Listings. Formale Hürden für einen Wertzuwachs standen den Unternehmen an der New Yorker Börse nicht entgegen, wohl aber das Desinteresse der Anleger. Obwohl gerade deutsche Institutionelle ihre Beteiligung im Dax stetig zurückfahren, auf nur noch 12,5% im vergangenen Jahr, spielt im Börsenhandel die Musik in Frankfurt.
Von Heidi Rohde, Frankfurt