Dirk Schumacher, Natixis

„Das Perfekte sollte nicht der Feind des Guten sein“

Die EZB erhöht die Leitzinsen wie nie zuvor, die deutsche Wirtschaft überrascht im Sommer mit Wachstum, die Euro-Inflation eilt von Rekord zu Rekord. All das ordnet Dirk Schumacher, Europa-Chefvolkswirt bei Natixis, im Interview ein.

„Das Perfekte sollte nicht der Feind des Guten sein“

Mark Schrörs.

Herr Schumacher, die Wirtschaft in Deutschland und im Euroraum hat im dritten Quartal positiv überrascht und sich widerstandsfähiger gegenüber den Kriegsfolgen und der hohen Inflation gezeigt als gedacht. Wird die verbreitet erwartete Rezession im Winter also weniger schlimm als befürchtet – oder lässt sich sogar noch vermeiden?

Die Kombination aus stark fallendem Realeinkommen für die Haushalte, einem eher schwachen globalen Umfeld und höheren Zinsen deutet nach wie vor auf eine Rezession hin. Die Stimmungsindikatoren aus dem Unternehmenssektor und auch das Konsumentenvertrauen sind ebenfalls auf Rezessionsniveau. Die signifikante Hilfe von staatlicher Seite wird den Einkommensschock dämpfen, aber voraussichtlich nicht völlig aufheben.

Die Inflation übertrifft weiter im Negativen alle Erwartungen – sowohl in Deutschland als auch im Euroraum ist sie nun zweistellig. Wie schlimm kommt es noch und droht dauerhaft mehr Inflation als noch vor wenigen Jahren?

Die große Unbekannte bei all dem sind die Energiepreise und Lieferkettenprobleme. Zumindest in der Eurozone waren diese beiden Faktoren die Haupttreiber der Inflation. Sollten sich die Energiepreise auf einem niedrigeren Niveau etablieren und die Lieferketten sich weiter verbessern – und wir in eine Rezession abgleiten –, spricht vieles für einen Rückgang der Inflation zu Beginn des nächsten Jahres. Ein Risiko dabei ist, dass die sehr hohen Inflationszahlen eine sich selbstverstärkende Dynamik – etwa durch eine Lohn-Preis-Spirale und höhere Inflationserwartungen – ausgelöst haben. Ob wir diese Schwelle bereits überschritten haben, ist leider in Echtzeit schwer festzustellen.

Die Bundesregierung will einen 200-Mrd.-Euro Abwehrschirm gegen die hohen Energiepreise spannen, inklusive Gas- und Strompreisbremse. Ist das Politik mit der Gießkanne oder die nötige gezielte Hilfe für Bürger und Unternehmen? Droht damit am Ende noch mehr Inflation?

Natürlich wäre genau gezielte Hilfe besser, aber das ist auf die Schnelle vermutlich nicht zu leisten. Das Perfekte sollte hier nicht der Feind des Guten sein. Solange ein Anreiz zum Energiesparen erhalten bleibt, ist schon viel gewonnen. Die finanzielle Unterstützung bedeutet mehr Inflation in dem Sinne, dass ohne diese Hilfe die Nachfrage geringer und damit die Inflation niedriger wäre. Nur muss trotzdem vielen Haushalten geholfen werden – der Bekämpfung der Inflation ist nicht alles unterzuordnen. Zudem, der Zusammenhang zwischen Wachstum und Inflation ist schwach. Man muss also eine sehr tiefe Rezession herbeiführen, um alleine über die Nachfrageschwächung die Inflation einzufangen. Die EZB muss deshalb auch Hilfe von den Energiemärkten bekommen. Eine Ausdehnung des Energieangebots in Europa – Ausbau der Erneuerbaren, Weiterbetrieb der deutschen AKW, Fracking – würde an dieser Stelle auch helfen.

Immer mehr Betriebe wollen wegen der hohen Energiepreise verstärkt Produktion drosseln oder sogar verlagern. Droht Deutschland ein Exodus und damit ein langfristiger wirtschaftlicher Abstieg?

Eine Drosselung ist ja schon zu beobachten. Wie nachhaltig diese sein wird, hängt vom mittelfristigen Ausblick für die Energiepreise in Deutschland relativ zu anderen Ländern ab. Erneuerbare Energiequellen sind mittlerweile billig und weitere Effizienzgewinne sind wahrscheinlich. Aber der notwendige Ausbau wird vermutlich für viele energieintensive Unternehmen zu lange dauern. Ein Teil dieser Produktion wird vermutlich verlagert. Ich würde dies allerdings nicht Deindustrialisierung nennen. Ein weiterer Faktor in den Investitionsentscheidungen wird die Einschätzung der Unternehmen sein, wie pragmatisch die Regierung auf das neue Umfeld reagiert und bereit ist, bislang Undenkbares zu denken. Da waren die Signale bislang sicher nicht eindeutig.

Was kann und sollte die Bundesregierung tun, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu fördern?

Das Wichtigste ist der Ausbau der eigenen Energiequellen auf allen Ebenen und in alle Richtungen. Und natürlich die immer wieder versprochene Vereinfachung von Genehmigungsverfahren und der Rückbau von Bürokratie. Die Lektüre der Stellungnahmen des Normenkontrollrates ist immer sehr ernüchternd.

Im Kampf gegen die hohe Inflation erhöht die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Leitzinsen wie nie zuvor. Wie weit muss die EZB noch gehen? Braucht es ein restriktives Zinsniveau, das die Wirtschaft aktiv bremst?

Zinserhöhungen alleine werden keinen allzu großen Unterschied machen – es sei denn, die Sensitivität der Inflation hinsichtlich des Wachstums hätte deutlich zugenommen. Die EZB sollte deshalb vor allem auf die Inflationserwartungen zielen. Es geht um das Signal an die Wirtschaftsakteure, dass die EZB ihr Mandat ernst nimmt. Ein Einlagenzinssatz von 2,5% könnte eventuell reichen. Aber wenn es klare Anzeichen für eine nachhaltige Verschiebung der Inflationserwartungen nach oben gibt, könnten höhere Zinsen notwendig sein.

An den Finanzmärkten spekulieren immer mehr Investoren darauf, dass die EZB und andere Zentralbanken bereits Anfang oder Mitte 2023 ihren Zinserhöhungskurs beenden und wieder zu Lockerungen greifen könnten. Haben die Zentralbanken dafür angesichts der Inflationsrisiken überhaupt Spielraum?

Da es eine große Verzögerung zwischen geldpolitischen Maßnahmen und Inflation gibt, kann es durchaus eine Situation geben – insbesondere, wenn der geldpolitische Zins in den restriktiven Bereich gehoben wurde –, in der die Zentralbanken bald wieder die Zinsen senken. Ich würde allerdings erwarten, dass ein solches Szenario in den USA deutlich wahrscheinlicher ist als im Euroraum.

Der EZB-Rat hat auch beschlossen, risikolose Zinsgewinne der Banken in Milliardenhöhe zu kappen, die aus dem Zusammenspiel von sehr großzügigen Liquiditätshilfen aus der Krise (TLTRO) und der raschen Zinswende entstanden sind. Die Branche ist erzürnt; sie warnt vor mehr Fragmentierung an den Märkten und sieht Glaubwürdigkeitsprobleme für die EZB. Wie beurteilen Sie das?

Eine nachträgliche Änderung ist sicher nicht die „feine englische Art“. Ob es zu Verspannungen in den Refinanzierungsmärkten kommt, hängt davon ab, ob die Banken mit dem geliehenen Geld vor allem Arbitrage betrieben haben oder es tatsächlich zur Kreditvergabe benutzt haben. Meine Vermutung wäre, dass ein großer Teil Arbitrage war. Aber die EZB muss dies unbefangen beobachten und möglicherweise eine weitere Finanzierungsbrücke anbieten, um eine extreme Reaktion im nächsten Jahr zu verhindern. Die Neigung der Banken, TLTROs vorzeitig zurückzuzahlen, wird eine Indikation geben.

Durch die Zinswende drohen auch den Euro-Notenbanken Verluste. Wie problematisch ist das für die EZB und wie sehr beeinflusst das ihre Fähigkeit, die Inflation wieder auf 2% zu drücken?

In der Theorie, und auch der Praxis, beeinflusst das die EZB nicht. Allerdings wären große Verluste und negatives Eigenkapital vermutlich nicht vertrauensbildend.

Die Fragen stellte

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