Für Entwarnung zu früh
Das war Balsam für die in diesem Jahr leidgeplagten Anleiheanleger. Bis unter 2% fiel die Verzinsung der zehnjährigen Bundesanleihe am Donnerstag nach der Tagung der Europäischen Zentralbank. Zwar beschlossen die Währungshüter, ihre Leitzinsen ein weiteres Mal kräftig um 75 Basispunkte (BP) anzuheben. Die Äußerungen auf der anschließenden Pressekonferenz wurden jedoch als weiteres Indiz gewertet, dass das weitere Zinsanhebungspotenzial allmählich überschaubar wird. In den Tagen zuvor hatten Berichte, nach denen führende Fed-Vertreter verstärkt über ein langsameres Anhebungstempo nachdenken, den Anleihemärkten Auftrieb verliehen. Hinzu kam die überraschende Entscheidung der kanadischen Zentralbank, ihren Leitsatz, den sie im September um 75 BP und im Juli um 100 BP erhöht hatte, „nur“ um 50 BP auf 3,75 % anzuheben.
Im Ergebnis konnte man Zeuge eines spektakulären Renditerückgangs sein. Am 21. Oktober hatte die Verzinsung der zehnjährigen Bundesanleihe mit etwas mehr als 2,50% das höchste Niveau seit dem Jahr 2011 erklommen. Laut Refinitiv war sie dann am Donnerstag mit dem Tief von knapp 2% auf Kurs, ihren stärksten Wochenrückgang seit 35 Jahren hinzulegen.
Abwärtspotenzial begrenzt
Der Ausflug der zehnjährigen Bundrendite unter die Marke von 2% hatte jedoch nicht lange Bestand, am Freitag lag sie zuletzt bei 2,10%, und es scheint derzeit auch unwahrscheinlich, dass sie in nächster Zeit deutlicher unter 2% nachgeben wird. Denn für Entwarnung ist es aus Sicht der Anleihemärkte noch zu früh. Wenn die Zentralbanken dazu übergehen, ihre Leitzinsen langsamer, d. h. in kleineren Schritten zu erhöhen, bedeutet dies, dass die Zinsen eben weiter steigen. Die EZB hat deutlich gemacht, dass die Eindämmung der Teuerung und der Inflationserwartungen weiterhin oberste Priorität hat. Wenn der Einlagensatz 2023 über 2%, vielleicht noch bis 2,5% oder mehr steigt, begrenzt dies das Abwärtspotenzial der Anleiherenditen.
Die Signale vom Wochenschluss waren jedenfalls nicht gerade ermutigend. So sagte der slowakische Notenbankpräsident Peter Kazimir, dass die Leitzinsen auch im nächsten Jahr erhöht werden müssten, weil sich die Inflationsrisiken ausbreiteten und die Gefahr bestehe, dass sie sich festsetzen. Die EZB müsse über das neutrale Zinsniveau hinaus in den restriktiven Bereich vordringen. Wie bestellt, folgten dann noch die vorläufigen Inflationszahlen von Oktober. Die deutsche Jahresteuerung ist auf 10,4% nach 10% im Vormonat gestiegen, laut Reuters hatten Volkswirte im Durchschnitt mit 10,1% gerechnet.
Letztlich werden sich die Zinsaussichten und damit auch die Perspektiven der Anleihemärkte in den kommenden Monaten weiterhin in einem Spannungsfeld von tendenziell die Renditen drückender wirtschaftlicher Abschwächung und Rezessionsrisiken auf der einen Seite und die Verzinsungen hoch haltenden Inflationsrisiken auf der anderen Seite bewegen. Dabei scheinen Letztere derzeit das Übergewicht zu haben, weil sich die hohe Teuerung als überaus hartnäckig erweist.
Kleinere Schritte
Für stärkere Marktbewegungen könnte in der neuen Woche die Sitzung des Offenmarktausschusses der US-Zentralbank Fed sorgen. Eine Anhebung der Fed Funds Rate um 75 BP gilt als ausgemacht. Wichtiger wird daher sein, wie sich die Notenbank in ihrem Kommuniqué äußert. Viel interessanter als der Zinsentscheid wird laut der Commerzbank der mittelfristige Ausblick sein. Denn nach diesem Schritt werde der obere Rand des Zielkorridors mit den dann erreichten 4% schon deutlich über der Fed-Schätzung des neutralen Niveaus liegen, das die US-Notenbank laut der letzten Projektion der Fed-Mitglieder bei etwa 2,5% sehe, und nicht mehr weit von dem bislang avisierten Hochpunkt von 4,75% entfernt sein, so das Institut, das diesen bei 5% erwartet. Diese letzte Strecke zum Zinsgipfel werde die Fed kaum mit einem Schritt zurücklegen, sondern in einigen kleineren Schritten, um eine allzu abrupte Änderung zu vermeiden. Folglich müsse die Fed die Marktteilnehmer in den kommenden Wochen auf kleinere Zinsschritte und damit den nahenden Gipfel des Zinszyklus einstimmen.
Wichtig unter dem Gesichtspunkte der Zins- und Inflationsaussichten wird auch der am Freitag anstehende US-Arbeitsmarktbericht vom Oktober sein. Laut dem von Bloomberg erfassten Konsens wird mit 200000 per saldo neu geschaffenen Stellen und einem Anstieg der Stundenlöhne im Vergleich zum September um 0,3% gerechnet.
(Börsen-Zeitung,