Unterm Strich

Linde schlägt Alarm, aber Frankfurt schläft

Die Tage von Linde als Dax-Wert und als in Frankfurt börsennotiertes Unternehmen sind gezählt, wenn es nach dem Willen des Linde-Managements geht. Das ist schlimm genug, schlimmer noch aber ist, dass „der Finanzplatz“ dieses Vorhaben mit einer Mischung aus Achselzucken und Ohnmacht hinnimmt.

Linde schlägt Alarm, aber Frankfurt schläft

Die Tage von Linde als Dax-Wert und als in Frankfurt börsennotiertes Unternehmen sind gezählt, wenn es nach dem Willen des Linde-Managements geht. Schlimm genug, dass eine 1879 in Deutschland gegründete und zum Weltkonzern aufgestiegene Aktiengesellschaft, die zu den Dax-Gründungsmitgliedern zählt und heute das wertvollste deutsche börsennotierte Unternehmen ist, dem hiesigen Finanzplatz den Rücken kehren will. Schlimmer noch aber ist, dass „der Finanzplatz“ dieses Vorhaben mit einer Mischung aus Achselzucken und Ohnmacht hinnimmt. Die Repräsentanten des Finanzplatzes, die in ihren Sonntagsreden so gerne von der notwendigen Stärkung und Förderung des Kapitalmarktes sprechen, bleiben weitgehend stumm und untätig, wenn ein Börsenschwergewicht wie Linde die Notierung in Frankfurt aufgeben und künftig nur noch in New York gelistet sein will. Wo bleiben – außer einem krokodilstränengleichen Bedauern – Initiativen insbesondere von der Deutschen Börse, dem Land Hessen als Börsenaufsicht, den Finanzplatzfördervereinen, den Verbänden der Emittenten, Investoren und Assetmanager bis hin zu den Privatanlegern, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Linde-Aktionäre sich vielleicht doch für einen Verbleib an der Frankfurter Börse und damit im Dax und anderen europäischen Auswahlindizes entscheiden?

„We determined that delisting from the Frankfurt exchange would be in the best overall interest of shareholders“, begründete Linde-Finanzchef Matt White in der Investoren-Konferenz den geplanten Rückzug. Es sind vor allem drei Gründe, die Linde für den Rückzug aus Frankfurt und die alleinige Notierung in New York ins Feld führt, und alle drei sind leider stichhaltig. Erstens die Kappungsgrenze auf 10% im Dax-Regelwerk, wonach kein einzelner Wert mehr als 10% Gewicht in dem Aktienindex haben darf. Zweitens die europäische Richtlinie „Ucits 5-10-40“ zur Risikostreuung, wonach bei Ucits-konformen Fonds das Gewicht eines Einzelwerts ebenfalls auf 10% begrenzt ist. Und drittens die absehbar weiter steigende Komplexität der Regulierung insbesondere in Europa, Stichwort ESG, die den Aufwand weit über die unterschiedlichen Bilanzierungsstandards von IFRS und US-GAAP hinaus künftig in die Höhe treiben wird.

Zu erstens hat Linde eine Untersuchung vorgelegt, deren Ergebnis eindeutig ist: Die Kappungsgrenze im Dax und das oftmals nötig gewordene „Rebalancing“ von Dax-orientierten Portfolios hat in den vergangenen Jahren wiederholt Verkaufsdruck ausgelöst, die Kursentwicklung von Linde beeinträchtigt und wird – bei weiterem Wachstum des Unternehmens und seines Börsenwerts – künftig ein noch größerer Hemmschuh sein. Im Detail nachzulesen auf der Homepage von Linde. Was läge also näher, als die Kappungsgrenze im Dax zu erhöhen oder ganz abzuschaffen, wie dies in anderen Ländern der Fall ist? Die Antwort des Dax-Eigentümers Deutsche Börse auf diese zentrale Herausforderung ist mehr als dürftig und spiegelt bürokratischen Kleingeist anstelle von strategischer Weitsicht. Es wird auf eine im Frühjahr erfolgte Marktkonsultation verwiesen, bei der unter anderem die Erhöhung der Kappung auf 15% vorgeschlagen wurde, dies bei den Befragten aber keine Mehrheit fand. Wer das Feigenblatt „Marktkonsultation“ zur Seite zieht, wird erkennen, welch zufälliger Kreis einiger institutioneller Investoren hier über Wohl und Wehe des Finanzplatzes entscheidet: Von den 21 (!) an der Konsultation Beteiligten haben gerade einmal 13 gegen die Erhöhung der Kappungsgrenze plädiert. Das ist zwar formal die Mehrheit – aber die Mehrheit von was? Von jeweils einer Handvoll Researcher, Händler und Portfoliomanager, die bei Fondsgesellschaften ihrem gut dotierten Job nachgehen und denen es mehr um die bequeme Einhaltung europäischer Ucits-Regulatorik geht als um die Zukunft des Finanzplatzes.

Dax-Kappung ändern

Apropos Ucits 5-10-40, und damit zweitens. In der Tat ist diese Vorschrift zur Risikostreuung ein weiteres Argument gegen das Listing in Frankfurt, aber auch generell gegen ein Listing an Börsenplätzen in Europa. Aber anders als bei der Kappungsgrenze im Dax erfolgt hier nicht viermal im Jahr zu festgelegten Wochen und von Hedgefonds und anderen Daytradern kalkulierbaren Zeiten das Rebalancing, das der Emittent – hier Linde – mit Aktienrückkäufen begleiten muss, um Kursausschläge zu begrenzen.

Drittens ist für Linde als operativ wie auch im Börsenwert überproportional wachsendem Unternehmen ein zunehmender Aufwand gewiss, um die Kappungseffekte für die Aktionäre auszugleichen. Mit ihrer seit der Praxair-Fusion einzigartigen Struktur mit Firmensitz in Irland, Steuersitz in Großbritannien und Doppellisting der Aktie in Frankfurt und New York hat sich Linde einst für eine Komplexität entschieden, die dem Merger zwar den Weg ebnete, nun aber als Erblast dem aktuellen Management wie auch Großaktionären allzu schwer erscheint. Mit Blick auf die Wettbewerber im globalen Industriegasegeschäft, von denen einer rein amerikanisch ist und trotz schwächerer operativer Leistung den S&P500 outperformt, muss der von Linde festgestellte „deutsche“ Bewertungsabschlag und das schwächere Marktsentiment für deutsche Aktien in der Tat zu denken geben.

Zum Handeln aufgefordert fühlen sollte sich an erster Stelle die Deutsche Börse. Die Rahmenbedingungen für Listings und Indexzugehörigkeit sollten Chefsache sein. Die Börsenaufsicht und damit die hessische Landesregierung müssen darauf achten, dass der Börsenbetreiber den Kapitalmarkt fördert und nicht global tätige Börsenunternehmen mit internationalem Aktionärskreis aus dem Land vertreibt. Denn eines ist gewiss: Wenn Linde geht, wird der nächste schwere Wert mit Doppellisting, nämlich SAP, wenig Argumente haben, ihr nicht zu folgen. Soll Frankfurt zur Provinzbörse schrumpfen?

c.doering@boersen-zeitung.de

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