Zinsumfeld schlägt überall durch
cru Frankfurt
„2022 war das Jahr, in dem sich die Zentralbanken vom aktiven Beeinflussen der Kapitalmärkte zurückgezogen haben. In der Folge ist die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen von null auf 1,8 % gestiegen.“ So fasst Matthias Reschke, als Head of European Debt Capital Markets bei J.P. Morgan für das Anleihengeschäft verantwortlich, die wichtigste Entwicklung zusammen, auf deren Grundlage jetzt das gesamte Investment Banking agieren muss: Fremdkapital ist deutlich teurer geworden – und die Banken sind zurückhaltender mit der Vergabe von Krediten für M&A-Deals geworden, weil sie nicht wissen, ob sie eine Akquisitionsfinanzierung anschließend am Anleihemarkt platzieren können. Das Emissionsvolumen der Unternehmen schrumpfte 2022 um 30 %, bei Hochzinsanleihen von Firmen geringerer Bonität – im Fachjargon High Yields genannt – betrug der Rückgang sogar 80 %. „Wer ein schlechtes Rating hat, muss sich jetzt überlegen, ob die Schuldenlast bei diesem neuen Zinsniveau noch tragbar ist und wie es weitergeht“, konstatiert Reschke knapp. „Die Investoren haben sich bereits auf höhere Zinsen eingestellt und erwarten eine leichte Rezession in Europa. Damit der Finanzierungsmarkt wieder aufgeht, ist jetzt die Frage: Sind die Zinsen genug erhöht, um die Inflation in den Griff zu bekommen?“ Unternehmen müssten auf den „Worst Case“ vorbereitet sein. Dabei sei das momentane Zinsumfeld normal, wenn man es mit dem Durchschnitt der vergangenen 70 oder 80 Jahre vergleiche.
Weil die Fremdkapitalfinanzierungen jetzt dauerhaft etwas knapper und teurer geworden sind und weil sich bei Unternehmenstransaktionen Verkäufer und Käufer noch nicht wieder auf eine neue, niedrigere Bewertung als bisher einigen können, ist auch das M&A-Volumen im laufenden Jahr kräftig zurückgegangen. In Deutschland schrumpfte das Volumen der Fusionen und Übernahmen im bisherigen Jahresverlauf auf 159 Mrd. Dollar – nach 236 Mrd. Dollar im selben Zeitraum des vorhergehenden Rekordjahres 2021. „Vor allem Private-Equity-Investoren agieren seit einigen Monaten nur noch mit großer Zurückhaltung, aber auch große Corporates wollen das Geld zusammenhalten“, sagt Julia Sellmann, Partnerin für M&A bei der Kanzlei Freshfields.
Auch am IPO-Markt und bei Kapitalerhöhungen haben die steigenden Zinsen und die hohe Volatilität der Kurse den Investmentbankern das Geschäft verdorben. „Das Volumen der Aktienemissionen in Deutschland ist um 80 % geschrumpft, wenn man den alles beherrschenden Porsche-Börsengang herausrechnet“, sagt Thorsten Zahn, Head of Equity Capital Markets in der deutschsprachigen Region.
In ganz Europa gab es neben Porsche nur drei Börsengänge mit einem Emissionsvolumen oberhalb von 300 Mill. Euro. Oberhalb von 50 Mill. Euro gab es europaweit immerhin 60 IPOs. Zu der Flaute beigetragen hat auch die schlechte Erfahrung der IPO-Investoren des Vorjahres: Laut Zahn haben die Kurse der Unternehmen, die 2021 in Europa an die Börse gekommen sind, im Durchschnitt gegenüber dem Ausgabepreis um 40 % eingebüßt.
„Investoren wissen nicht, wie sie mit einer von der Fed induzierten Rezession umgehen sollen. Sie müssen sich erst daran gewöhnen. Es findet ein massives Repricing statt“, berichtet Zahn von der Ratlosigkeit im Umgang mit der neuen Situation nach dem vom billigen Notenbankgeld befeuerten IPO-Boom der beiden Vorjahre. „Bei IPOs gibt es einen sehr großen Rückstau, der sich ab Mai 2023 auflösen könnte. Im Markt wird für Deutschland mit zehn Börsengängen mit Emissionserlösen von je mehr als 250 Mill. Euro im kommenden Jahr gerechnet.“ Zudem würden viele Kapitalerhöhungen und Wandelanleihen erwartet.
Einige der IPO-Kandidaten, die 2022 nicht zum Zuge kamen, haben sich in der Zwischenzeit abseits der Börse Kapital verschafft: Ein Beispiel ist der Arzneimittelhersteller Cheplapharm aus Greifswald, der von dem Finanzinvestor Atlantic Park und dem Staatsfonds GIC aus Singapur 550 Mill. Euro erhielt. Auch der Batteriehersteller Northvolt holte sich statt IPO das Geld abseits der Börse.