Ende der Ernährungskrise ist nicht in Sicht
Ende der Ernährungskrise ist nicht in Sicht
FAO meldet Einbruch der türkischen Lebensmittelproduktion von 20% – Ukraine-Krieg belastet – Mehr Hungernde weltweit
Anna Steiner
ast Frankfurt
Die Coronavirus-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, Naturkatastrophen und nicht zuletzt das Erdbeben Anfang Februar verschärfen die Ernährungskrise. Die Lebensmittelproduktion weltweit ist in Mitleidenschaft gezogen. Experten der Welternährungsorganisation schlagen Alarm – und fordern Hilfe.
Die Zahl der Risikofaktoren für die Ernährungssicherheit wird immer länger: Erst die Coronakrise, dann der Angriff Russlands auf die Ukraine, die „Kornkammer“ Europas, das Erdbeben in der Türkei und in Syrien und nicht zuletzt der Klimawandel. Die Märkte für Agrarrohstoffe haben sich seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine zwar wieder beruhigt. Die Lebensmittelpreise sind aber noch immer erhöht und belasten die Staatshaushalte ohnehin bereits gefährdeter Länder zusätzlich. Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen jüngst meldete, liegen die Preise nach wie vor über dem durchschnittlichen Niveau der vergangenen Jahre. Hinzu kommen neue Faktoren, die für Preisauftrieb sorgen können. Die Vereinten Nationen meldeten in dieser Woche, dass durch das Erdbeben in der Türkei mehr als 20% der landwirtschaftlichen Produktion des Landes beschäftigt wurden. Nach der Ukraine ist damit ein weiterer wichtiger Lieferant für die Agrarmärkte getroffen.
Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien beeinträchtigt eine weitere wichtige Agrarlandschaft. Die Katastrophe Anfang Februar kostete nicht nur Zehntausende ihr Leben, sie zerstörte auch Ernten und Lager. Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen in einer aktuellen Untersuchung feststellte, ist die Maul- und Klauenseuche zu einem großen Risiko für die Viehhalter geworden – auch weil sich die Bedingungen für die Tierhaltung durch die äußeren Umstände zwangsläufig verschlechtert hätten. Zudem sind Arbeitskräfte knapp. Die Probleme sind zudem nicht regional begrenzt, denn auch die Türkei zählt bei einigen Lebensmitteln zu den weltweit führenden Exporteuren. Die am stärksten betroffene Region ist bekannt unter „fruchtbarer Halbmond“. 20% der türkischen Agrarexporte kommen aus dieser Region. „Diese prekäre Situation gibt Anlass zu weiterer Besorgnis, da die Sommererntesaison näher rückt“, warnt die FAO. Landwirte müssten dringend mit Düngemitteln und Saatgut unterstützt werden.
„Noch nie mussten so viele sich überlagernde Krisen gleichzeitig gelöst werden, um das Recht auf Nahrung zu verwirklichen“, sagte ein Sprecher des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft auf Anfrage. „Durch die Corona-Pandemie, die sich verschärfende Klima- und Biodiversitätskrise, aber auch durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind wir von der Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung in vielen Teilen der Welt weit entfernt.“ Dabei hatte die internationale Staatengemeinschaft bis 2019 bei der Bekämpfung des weltweiten Hungers große Fortschritte gemacht. Die Zahl der unterernährten Menschen und Hungernden war seit 2002 bis zum Ausbruch der Pandemie nahezu kontinuierlich zurückgegangen. Seitdem steigt ihre Zahl jedoch rapide an.
Die Preise für Nahrungsmittel, Dünger und Energie sind stark gestiegen – dem Lebensmittel-Preis-Index der FAO zufolge auf bis zu 156,3 Punkte im vergangenen März, ein Rekord. Inzwischen hat der Index, der sich aus den Preisen, für Speiseöle, Getreide, Fleisch, Zucker und Milchprodukte zusammensetzt, zwar wieder nachgegeben auf 124,8 Zähler im Februar. Damit liegen die Preise aber immer noch um fast ein Viertel höher als im langfristigen Durchschnitt.
Unterernährung nimmt zu
Die Lebensmittel-Inflation stellt viele von Lebensmittelimporten abhängige Länder vor ein großes Problem. Viele Staatshaushalte wurden schon während der Pandemie überdurchschnittlich durch Hilfsmaßnahmen belastet und haben wenig Spielraum für zusätzliche Ausgaben. So auch in Syrien. „Bombardierung, Vertreibung, Isolation, Dürre, wirtschaftlicher Zusammenbruch und nun auch noch ein Erdbeben von erschütterndem Ausmaß“, fasste Kenn Crossley, WFP-Länderdirektor in Syrien, die Lage vor Ort zusammen.
Inzwischen leiden in dem Land mehr als zwölf Millionen Menschen an Hunger. Das entspricht der Hälfte der Bevölkerung. Weitere knapp drei Millionen Menschen laufen laut UN Gefahr, in eine Hungersnot abzurutschen. Die Unterernährungsrate bei Kindern hat in einigen Teilen Syriens inzwischen 28% erreicht. Diese Entwicklung ist umso erschreckender, da sich Syrien bis zum Bürgerkrieg 2011 selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnte – heute laut WFP aber eine der weltweit größten Hungerkrisen erlebt und auf Importe angewiesen ist.
Auch viele andere Staaten auf dem afrikanischen Kontinent sind auf Nahrungsmitteleinfuhren aus dem Ausland angewiesen. Der Produktionsrückgang in der Ukraine und in der Türkei macht diese Abhängigkeit sehr teuer. Vor dem Krieg war die Ukraine einer der wichtigsten Nahrungsmittelproduzenten und ernährte laut WFP rund 400 Millionen Menschen. Durch den Krieg gingen aber bereits 26% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche verloren. „Eine der wichtigsten Kornkammern der Welt wurde vor einem Jahr in Brand gesetzt“, sagte der Leiter des deutschen WFP-Büros, Martin Frick. „Diese Kriegserklärung an die globale Ernährungssicherheit wirkt fort. Es ist eine anhaltende Katastrophe für die Menschen in der Ukraine und Millionen Hungernde weltweit.“
Mitte März verlängerten Russland und die Ukraine zwar das Getreideabkommen, das der Ukraine den Zugang zu den Häfen und einen Korridor im Schwarzen Meer für Getreideexporte gewährleisten soll. Den Vertrag nutzt Russland aber immer wieder als Druckmittel. So forderte das Außenministerium in Moskau nur vier Tage nach der Unterzeichnung des neuen Abkommens Erleichterungen bei russischen Düngemittel-Exporten und die Wiederaufnahme von technik- und Ersatzteil-Lieferungen im landwirtschaftlichen Bereich, die seit vergangenem Jahr unter die westlichen Sanktionen fallen.
Nachhaltige Strategie gesucht
Neben diesen aktuellen Krisen bedrohen aber systemische Fehler die Ernährungssicherheit. Da für viele heimische Getreidearten der Preis am Weltmarkt geringer ist als für Weizen und Mais, verdrängen diese die resistenteren Arten insbesondere in vielen afrikanischen Staaten. Bestrebungen gibt es zwar, Hirse wieder beliebter zu machen, doch dafür müssten sich in weiten Teilen der Welt die Ernährungsgewohnheiten ändern. Entscheidend für die Bekämpfung des Hungers vor Ort seien zudem „weniger Nachernteverluste, klimaresiliente Anbauverfahren sowie lokal angepasstes, vermehrungsfähiges Saatgut“, heißt es dazu aus dem Ernährungsministerium in Berlin.
Nicht zuletzt setzt die Entwicklungshilfe immer mehr auf kleinbäuerliche Strukturen, da sich diese in globalen Krisen als besonders resilient erweisen. „Allerdings sind kleinbäuerliche Strukturen auch sehr verletzlich, beispielsweise durch Unwetter und Klimafolgen, und von übergeordneter Infrastruktur abhängig“, so ein Sprecher des BMEL.