Brüssel facht Impfstreit mit Briten an
hip/fed London/Frankfurt
Ausfuhren von Impfstoffen aus der EU in andere Länder sollen künftig einem strengeren Genehmigungsverfahren unterworfen werden. Das haben EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis und EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides angekündigt. Dombrovskis beteuerte zwar, die Verschärfung der Exportregeln richte sich nicht gegen ein bestimmtes Land. Allerdings ist offensichtlich, dass die EU-Behörde mit der Anpassung des „Genehmigungsmechanismus“ insbesondere auf die anhaltende Kontroverse mit Großbritannien über Impfstofflieferungen reagiert.
Gegenseitigkeit als Kriterium
Konkret führt die EU-Kommission zwei neue Kriterien ein, die bei der Genehmigung von Impfstoffausfuhren berücksichtigt werden sollen. Erstens soll eine Rolle spielen, inwieweit das Bestimmungsland seinerseits Exporte von Impfstoffen beziehungsweise deren Ausgangsstoffen gesetzlich oder auf andere Weise beschränkt. Zweitens wird die Genehmigung der Ausfuhr von Impfdosen davon abhängig gemacht, wie im Zielland die epidemiologische Lage, die Impfquote und die Impfstoffvorräte zu bewerten sind. Die EU-Kommission fasst diese beiden zusätzlichen Kriterien unter den Überschriften Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit zusammen.
Dombrovskis erinnerte bei einer Pressekonferenz daran, dass die EU mittlerweile 10 Millionen Impfdosen nach Großbritannien geliefert habe, während aus dem Vereinigten Königreich bisher nicht eine einzige Dosis in die Europäische Union ausgeführt worden sei. Die Reziprozitätsvorgabe könnte vor diesem Hintergrund vor allem bei künftigen Exportgenehmigungen auf die Insel Bedeutung gewinnen.
„Alarmierende“ Situation
Zudem könnten auch die Impffortschritte in Großbritannien, wo der Anteil bereits geimpfter Bürger deutlich höher liegt als auf dem Kontinent, künftigen Export-Genehmigungen im Wege stehen – zumal EU-Kommissarin Stella Kyriakides zur Wochenmitte über steigende Corona-Fallzahlen in 19 der 27 EU-Staaten berichtete. In mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedsländer habe die Zahl der Menschen, die mit Corona-Symptomen in Krankenhäuser und in Intensivstationen eingeliefert wurden, zuletzt wieder zugenommen. Und in acht EU-Ländern sei die Zahl der Toten mit oder wegen Corona in jüngster Zeit wieder schneller gestiegen. Kyriakides bezeichnete die Situation als „alarmierend“ und „besorgniserregend“. Umso wichtiger sei gerade jetzt die Versorgung mit zuverlässigen Impfstoffen, unterstrich die zyprische EU-Kommissarin. Dombrovskis bemühte sich derweil darum, hervorzuheben, es handele sich „um kein Exportverbot“. Die EU sei bislang der weltweit größte Exporteur von Impfstoffen gegen Covid-19 und werde es auch bleiben. Der Lette unterstrich zudem, dass die neuen schärferen Regeln nicht auf Exporte an Länder mit niedrigem oder mittlerem Volkseinkommen, also in Schwellen- und Entwicklungsländer, angewandt werden.
Die britische Regierung war gestern bemüht, den Streit zu entschärfen. Premierminister Boris Johnson sagte, man würde „nicht im Traum daran denken“, im Gegenzug für ein mögliches Exportverbot der EU die Ausfuhr von Impfstoffen oder dafür erforderlichen Komponenten Richtung Kontinent zu blockieren. In der Presse werden dagegen ganz andere Szenarien durchgespielt. Der Viagrahersteller Pfizer sei für die Impfstoffproduktion in Belgien auf Lipide des britischen Spezialchemiekonzerns Croda angewiesen. Aber man müsse ja nicht unbedingt Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern könne auch Strafzölle auf deutsche Autos verhängen. Frankreich und Deutschland gelten konservativen Meinungsmachern als Hardliner, die den Impfstoffstreit dazu nutzen, von eigenen Defiziten beim Schutz der Bevölkerung abzulenken.
Johnson will verhindern, dass die britische Impfkampagne ins Stocken gerät. Er telefonierte vor dem heutigen EU-Gipfel mit anderen Regierungschefs, um sicherzustellen, dass Impfstoff aus dem niederländischen AstraZeneca-Werk Halix weiterhin nach Großbritannien verschifft werden darf. Irlands Premier Micheál Martin warnte bereits am Montag vor Impfstoff-Nationalismus. Für den Pfizer-Impfstoff würden 280 verschiedene Materialien von 86 Lieferanten aus 19 Ländern benötigt. „Wenn man Barrieren errichtet, könnten andere Länder bei einigen der dringend benötigten Rohstoffe nachziehen“, erklärte er. „Wenn wir damit anfangen, haben wir ein Problem.“