Countdown im britischen Rentenstreit
Von Andreas Hippin, London
Schatzkanzler Rishi Sunak wird sich den 14. September rot im Kalender angestrichen haben. An diesem Tag legt das Statistikamt ONS Arbeitsmarktdaten vor. Und sollte sich die Regierung nicht vom sogenannten Triple Lock verabschieden, werden sie die Grundlage für eine geradezu sensationelle Rentenerhöhung liefern. Hinter den Kulissen knirscht es. Premierminister Boris Johnson gilt in dieser Sache als Bremser.
Hinter dem Triple Lock verbirgt sich das von der Koalitionsregierung aus Tories und Liberaldemokraten unter David Cameron abgegebene Versprechen, dass die staatliche Rente jedes Jahr um den höchsten von drei Werten steigt: Preisauftrieb, Lohnwachstum oder 2,5%. Das Versprechen, das sich auch im Wahlprogramm der Tories zu den Unterhauswahlen 2019 wiederfand, resultierte aus der Erkenntnis, dass die staatliche Grundrente über viele Jahre nicht mit der Preisentwicklung mithalten konnte. Nun dürfte es der Regierung schwerfallen, den zwölf Millionen Rentnern zu erklären, warum sie zurückstecken sollen, wenn die Entwicklung einmal in ihre Richtung läuft. Wie das Institute for Government vorrechnet, lag das durchschnittliche Lohnwachstum in den drei Monaten per Ende Juni bei 8,8%. Würden die staatlichen Renten gemäß dem Wahlversprechen im kommenden April in diesem Maße steigen, müssten für sie im Fiskaljahr 2025/26 rund 4 Mrd. Pfund mehr aufgebracht werden, als noch im März veranschlagt. Die Denkfabrik spricht von einem „perversen“ Resultat und empfiehlt der Regierung, sich stattdessen an der um pandemiebedingte Verzerrungen bereinigten Lohnentwicklung zu orientieren. Das würde dem Geist des Wahlversprechens entsprechen. Doch ist es einfacher gesagt als getan. Setzt sich die Regierung über einen zentralen Punkt des Wahlprogramms hinweg, dürfte das einen gewaltigen öffentlichen Aufschrei auslösen – egal wie vernünftig das auch mit Blick auf die Datenlage sein mag. Geht es nach dem ONS bewegt sich das „tatsächliche“ Lohnwachstum zwischen 3,5% und 5%. Zum rasanten offiziellen Lohnwachstum trug bei, dass im Vorjahr viele Arbeitnehmer in Kurzarbeit geschickt worden waren und nur vier Fünftel ihrer Gehälter erhielten. Zudem verloren während der Pandemie vor allem Geringverdiener ihren Job, was automatisch den Durchschnittsverdienst derjenigen nach oben treibt, die noch Arbeit haben.
Ungeliebte Alternativen
Man darf gespannt sein, ob Johnson den politischen Mut aufbringt, seinen Wählern zu erklären, warum es vernünftiger ist, die alljährliche Rentenerhöhung dieses Mal nicht am höchsten Wert festzumachen. Die Grundzüge der öffentlichen Debatte kann man sich bereits vorstellen. Steigt die Rente nicht wie erwartet, sind ihre ältesten Empfänger davon am meisten betroffen. Zudem sind Frauen stärker von der staatlichen Rente abhängig. Die Konservativen werden vorwiegend von älteren Menschen gewählt. Und einer Umfrage des Lebensversicherers Canada Life zufolge sprechen sich knapp drei Fünftel der Über-50-Jährigen für den Erhalt des Triple Lock aus. Dagegen will nur gut ein Drittel der Jüngeren daran festhalten. Alles in allem befürwortet fast die Hälfte der Erwachsenen (46%) trotz der Prognosen zum Lohnwachstum den Fortbestand des Rentenversprechens. Zu den Alternativen, die derzeit diskutiert werden, gehört ein „Double Lock“, das den höheren von zwei Werten zur Grundlage nimmt: Preisauftrieb oder 2,5%. Diese würde Canada Life zufolge gerade einmal von 16% der Befragten unterstützt. Noch weniger (14%) können sich für einen Kompromiss auf Grundlage der bereinigten Lohnentwicklung erwärmen. Leben kann man von der staatlichen Rente ohnehin kaum, selbst wenn sie im Extremfall auf mehr als 10000 Pfund pro Jahr steigen sollte. Wer kann, sorgt in Großbritannien privat vor.