Deutschlands Position als Wachstumsschlusslicht festigt sich
Deutschland wird immer weniger zugetraut
Sachverständigenrat und EU-Kommission senken Wachstumsprognosen − Euro-Wirtschaft legt zum Jahresstart zu
Die deutsche Wirtschaft bekommt die rote Laterne als Wachstumsschlusslicht einfach nicht los. Nun haben sowohl die Wirtschaftsweisen als auch die EU-Kommission erneut die Prognosen gesenkt. Ein Anziehen der Exporte und des Privatkonsums soll aber im weiteren Jahresverlauf Besserung bringen.
ba Frankfurt
Sowohl die Wirtschaftsweisen als auch die EU-Kommission trauen der deutschen Wirtschaft immer weniger zu. In ihren Frühjahrsprognosen haben sie ihre jeweiligen Erwartungen an die größte Euro-Volkswirtschaft deutlich reduziert und damit deren Position als Wachstumsschlusslicht unter den großen Industrienationen zementiert − nur für Finnland zeigt sich die Brüsseler Behörde noch pessimistischer. Im Jahresverlauf dürften hierzulande aber ein zunehmender Privatkonsum und der infolge des steigenden Welthandels stärker anspringende Export für weiteren Schub sorgen, heißt es beim Sachverständigenrat Wirtschaft.
Auch die EU-Kommission setzt für die prognostizierte Erholung der Euro-Wirtschaft auf den privaten Verbrauch. Die Brüsseler rechnen ebenfalls mit höheren Ausfuhren − die aber von beschleunigten Importen infolge der anziehenden Binnennachfrage weitgehend egalisiert werden dürften. Die geopolitischen Risiken für die Konjunktur werden dabei sowohl in Wiesbaden als auch in Brüssel betont.
IMK-Barometer: Rezessionsgefahr sinkt erneut
Während die EU-Kommission für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hierzulande ein schmales Plus von 0,1% für dieses Jahr voraussagt, steht die Prognose der sogenannten Wirtschaftsweisen bei +0,2%. Die vorherigen Schätzungen waren mit 0,3% und 0,7% noch wesentlich optimistischer. Dass sich die Aussichten derzeit aufhellen, zeigt aktuell auch der IMK-Konjunkturindikator: Dieser signalisiert für den Zeitraum von Mai bis Ende Juli ein erneut gesunkenes Rezessionsrisiko. Die Rezessionswahrscheinlichkeit liegt bei 45,6%, im April betrug sie für die folgenden drei Monate 48,7% und im März waren es noch 58,3%. Nachdem die deutsche Wirtschaft im weiteren Jahresverlauf an Fahrt aufnehmen dürfte, wird für das kommende Jahr ein kräftigeres Wachstum von 0,9% vom Sachverständigenrat bzw. 1,0% von der EU-Kommission erwartet.
Rezession überwunden
Für die Staaten der Währungsunion sind die Prognosen deutlich optimistischer. In den beiden Frühjahrsprognosen steht für dieses Jahr unverändert ein Plus von 0,8%. Die Brüsseler senkten allerdings die Voraussage für 2025 um 0,1 Prozentpunkte auf 1,4%. Die Wirtschaftsweisen erwarten 1,5%. Nach einer weitgehenden Stagnation der Wirtschaft im Jahr 2023 haben das unerwartet gute Wachstum zu Jahresbeginn und der anhaltende Rückgang der Inflation die Voraussetzungen für eine allmähliche Erholung geschaffen, heißt es in Brüssel. Zu Jahresbeginn hatte die Euro-Wirtschaft um 0,3% zugelegt, wie das Statistikamt Eurostat am Mittwoch die Erstschätzung bestätigte. In den beiden vorherigen Quartalen schrumpfte das BIP um je 0,1%, womit die Definition einer technischen Rezession erfüllt war.
Inflation nähert sich EZB-Ziel weiter an
„Wir erwarten im Laufe dieses und des nächsten Jahres, dass sich das Wachstum allmählich beschleunigt, da der private Konsum gestützt wird durch sinkende Inflation, eine Erholung der Kaufkraft und anhaltendes Beschäftigungswachstum“, erklärte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni laut Agenturberichten bei der Vorstellung der Frühjahrsprognose. Die Inflation dürfte „ausgehend von einem unerwartet niedrigen Wert in den ersten Monaten dieses Jahres“ weiter zurückgehen: Nach 5,4% im Jahr 2023 werden 2,5% im Jahr 2024 und 2,1% im Jahr 2025 erwartet. Der Arbeitsmarkt dürfte robust bleiben und die Arbeitslosenquote bei 6,6% verharren, wenn sich auch das Beschäftigungswachstum abschwächt. Der Rückgang des öffentlichen Defizits dürfte sich fortsetzen, die Schuldenquote bei 90% stabilisieren.
Deutsches Potenzialwachstum sinkt
Der Sachverständigenrat sieht allerdings die mittelfristigen Wachstumsperspektiven für Deutschland durch den schwachen Arbeitsmarkt gedrückt − auch wenn dieser im EU-weiten Vergleich äußerst gut dasteht. Die EU-Kommission erwartet, dass die für den internationalen Vergleich berechnete Arbeitslosenquote bis einschließlich 2025 bei den seit 2022 gezeigten 3,1% verharrt. Die Wirtschaftsweisen erwarten, dass die Quote, so wie sie von der Bundesagentur für Arbeit (BA) ausgewiesen wird, nach 5,7% im vergangenen Jahr 2024 auf 5,8% steigen und 2025 dann auf 5,6% fallen wird. Allerdings würden „vor allem der demografische Wandel und das damit zurückgehende Arbeitsangebot mittelfristig den Wachstumsausblick belasten“, heißt es beim Sachverständigenrat. Er schätzt das Potenzialwachstum im Jahr 2024 auf 0,5% und im Jahr 2025 auf 0,4%. Bis zum Jahr 2029 dürfte es dann „auf diesem niedrigen Niveau verharren“.
Größere Fortschritte dürfte es hierzulande danach in Sachen Inflation geben: In den Jahren 2024 und 2025 soll sie im Jahresschnitt auf 2,4% bzw. 2,1% sinken nach 5,9% im Jahr 2023. „Die steigenden Arbeitskosten und das geringe Produktivitätswachstum verlangsamen den weiteren Rückgang der Inflation“, betonen die Wirtschaftsweisen. Sie gehen davon aus, dass die EZB noch in diesem Sommer die Leitzinsen senken wird und die damit verbesserten Finanzierungsbedingungen für Unternehmen die privaten Investitionen ankurbeln. Die Zinssenkung dürfte jedoch frühestens 2025 die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stützen.
Auch die deutschen Verbraucher erwarten eine geringere Teuerung, wie die Bundesbank am Mittwoch mitteilte. Im April fiel die auf Sicht von zwölf Monaten erwartete Inflation auf 2,9% und damit erstmals seit April 2021 unter die Marke von 3%. 2022 waren es wegen der wirtschaftlichen Folgen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine mehr als 8%. Die Erwartungen zur Inflationsrate in drei Jahren sanken gleichfalls, und zwar von 3,6 auf 3,4%.