„Wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft“
„Wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft“
Im Interview: Sabine Mauderer
Sabine Mauderer attestiert Deutschland ein gutes Fundament für mehr Wirtschaftswachstum, aber auch gravierende strukturelle Probleme. Was sich ändern muss und weshalb die deutsche Gesellschaft auch grundsätzlich umdenken sollte, erklärt die Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank im Interview.
Frau Mauderer, die deutsche Wirtschaft wird 2024 voraussichtlich erneut schrumpfen. Was stimmt Sie optimistisch, dass das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren wieder anzieht?
Das Wachstum in Deutschland ist definitiv zu schwach. Man darf das Problem auch nicht klein oder schönreden. Das ist auch kein temporäres Phänomen. Deutschland hat strukturelle Schwächen, die jetzt gelöst werden müssen, damit wir wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehren. Mich stimmt hoffnungsfroh, dass wir immer noch ein gutes Fundament haben, auf dem wir aufbauen können. Wir haben solide Staatsfinanzen. Um das AAA-Rating beneiden uns viele. Wir haben ein stabiles demokratisches System, gute Bildungsmöglichkeiten für die Bevölkerung und stabile Sozialsicherungssysteme.
Für 2025 hat die Bundesbank dennoch kürzlich erst ihre Wachstumsprognose auf gerade einmal 0,2% gekappt.
Strukturelle Defizite, die über viele Jahre entstanden sind, die lösen sie nicht innerhalb weniger Jahre. Die Impulse, die wir sowohl vom Staat, als auch von den Unternehmen benötigen, werden Zeit brauchen, bis sie ihre Wirksamkeit entfalten. Das Potenzialwachstum Deutschlands lag Anfang des Jahrtausends noch bei 1,5% und ist inzwischen nach Schätzungen der Deutschen Bundesbank auf 0,4% gefallen. Sowohl beim Faktor Arbeit, als auch beim Faktor Kapital braucht es Impulse, um dort jeweils mehr Wachstum zu generieren.
Welche Stellschrauben gibt es beim Faktor Arbeit?
Wir haben zwar eine hohe Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, aber mit nahezu 50% eine sehr hohe Teilzeitquote. Da geht dem Arbeitsmarkt viel Potenzial verloren. Eine zentrale Stellschraube, um die Arbeitszeit von Frauen zu erhöhen, ist auf jeden Fall ein Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Aber auch flexiblere Arbeitszeiten und die Möglichkeit, zum Teil im Homeoffice arbeiten zu können, helfen. Nicht zuletzt brauchen wir aber auch ein Umdenken in der Gesellschaft. Anders als in Frankreich hat es hierzulande oft noch ein schlechtes Image, wenn eine Mutter mit kleinen Kindern wieder in Vollzeit arbeitet. Andere Stellschrauben für den Arbeitsmarkt sind ein stärkerer Zuzug von ausländischen Fachkräften und eine schrittweise Anpassung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.
Dies alles würde die Zahl der Arbeitsstunden in Deutschland erhöhen. Eine weitere Möglichkeit ist, die Arbeitszeit produktiver zu gestalten. Wie kann KI dabei helfen?
Es ist absolut wichtig, dass Deutschland und Europa stark in den Bereich KI investieren. Zum einen deuten Analysen darauf hin, dass KI zu Produktivitätssteigerungen führen kann. Zum anderen lassen sich durch den Einsatz von KI Innovationen schaffen. Grundsätzlich haben wir in Deutschland ein Umfeld, in dem viel Wissen generiert wird. Bei der Patentanmeldung ist Deutschland insgesamt Nummer eins in Europa und Platz fünf in der Welt. Wenn es aber darum geht, Wissen in Innovationen umzusetzen, dann haben wir noch viel Luft nach oben.
Wenn ein deutsches Startup mehr finanzielle Mittel braucht, um Skaleneffekte zu erzielen, wird es das Kapital dafür häufig aus den USA oder ggf. auch aus Asien bekommen. Das ist dann ein erster Schritt weg aus Deutschland und Europa.
Sabine Mauderer, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank
Woran liegt das?
Erstens, betriebliche Forschung und Entwicklung mündet in Deutschland seltener in disruptiven Innovationen als in anderen Ländern. Zweitens ist bei uns kaum Wagniskapital vorhanden. Wenn ein deutsches Startup mehr finanzielle Mittel braucht, um Skaleneffekte zu erzielen, wird es das Kapital dafür häufig aus den USA oder ggf. auch aus Asien bekommen. Das ist dann ein erster Schritt weg aus Deutschland und Europa. Das darf uns nicht passieren. Und drittens sind wir eine alternde Bevölkerung, die insgesamt weniger innovationsaffin ist.
Weshalb?
Die Zeitspanne, in der das in der Ausbildung erlangte Wissen weiterhin aktuell ist, wird immer kürzer durch den fortwährenden technologischen Wandel. Wir brauchen daher auch ein Umdenken, was das Thema Fortbildung betrifft. Das Narrativ beim Arbeitnehmer sollte nicht sein, ich habe Defizite, also muss ich zur Fortbildung. Sondern es sollte positiv wahrgenommen werden, sich weiterzuentwickeln, um Neuerungen offen gegenüber zu sein.
Ein anderes Thema, was die Wirtschaft neben der KI in den kommenden Jahren umwälzen wird, ist der Klimawandel und die nötige Transformation zu mehr Nachhaltigkeit. Wie gut ist Deutschland bei der Entwicklung von grünen Technologien aufgestellt?
In China wird kräftig in Clean Tech investiert. Aber auch die USA haben enorm aufgeholt. Durch das US-Förderprogramm IRA sind viele Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien sehr erfolgreich. Europas Wirtschaft muss bei grünen Technologien am Ball bleiben und darf sich nicht davon abhalten lassen, dass die Grundstimmung gegenüber einer ehrgeizigen Klimapolitik schon mal positiver war. Der Klimawandel schert sich nicht um Politik, sondern schreitet voran. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Nachfrage nach Produkten wie Clean Tech steigt. Daher ist es intelligent, das als Wachstumsmarkt zu sehen.
Brauchen wir mehr Förderung in Deutschland und in der EU im Bereich der Investitionen in grüne Technologien?
Noch wichtiger sind für Unternehmen Planungssicherheit und Verlässlichkeit über die künftigen Rahmenbedingungen, gerade in der Klimapolitik. Förderprogramme gibt es bereits sehr viele. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, wie schnell kommen Unternehmen an diese Fördertöpfe. Stichwort Bürokratie. Und es ist eine Frage, wie transparent es für ein Unternehmen überhaupt ist, welche Förderprogramme infrage kommen.
Könnte hier der Einsatz von Künstlicher Intelligenz helfen, um die Bürokratie abzubauen?
Wir brauchen hier gar nicht über KI zu sprechen. Es reicht schon, wenn wir anfangen, grundsätzlich über Digitalisierung zu reden. Für den Privatsektor sowie für die öffentliche Hand gilt, dass die Möglichkeiten der vorhandenen Technologien nicht ausreichend genutzt werden. Das ist mit ein Grund, weshalb auch die Produktivität in Deutschland so niedrig ist.
Ich bin vom Ausmaß der negativen Folgen des Klimawandels auf das Wirtschaftswachstum überrascht, obwohl ich mich mit der Thematik schon viele Jahre beschäftige.
Sabine Mauderer, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank
Sie sind nicht nur Vizepräsidentin der Bundesbank, sondern seit Januar 2024 auch Vorsitzende des internationalen Netzwerkes NGFS. Dessen Ziel ist es, das Risikomanagement im Finanzsektor bezüglich des Klimawandels zu verbessern und die grüne Transformation der Wirtschaft zu unterstützen. Was war die überraschendste Erkenntnis in ihrem ersten Jahr als NGFS-Vorsitzende?
Wir haben dieses Jahr viele makroökonomische Analysen gemacht. Ich bin vom Ausmaß der negativen Folgen des Klimawandels auf das Wirtschaftswachstum überrascht, obwohl ich mich mit der Thematik schon viele Jahre beschäftige. Unter Beibehaltung der aktuellen Klimapolitik fällt die weltweite Wirtschaftsleistung laut einer neuen NGFS-Studie bis 2050 um 15% geringer aus im Vergleich zu einer hypothetischen Welt ohne Klimawandel. Wahrscheinlich ist das tatsächliche Ausmaß der klimabedingten Schäden sogar noch sehr viel höher. Denn die Modelle berücksichtigen noch nicht den höheren Meeresspiegel, Klima-Kipppunkte oder sozioökonomischen Faktoren wie Klimamigration. Diese Faktoren können wir zum heutigen Stand noch nicht quantifizieren. Das dürfte sich in den kommenden Jahren jedoch ändern.
Wie sehen die Auswirkungen des Klimawandels auf die Inflation aus? Dem Parameter, der für Notenbanken besonders wichtig ist.
Der Deutschen Bundesbank ist sehr wichtig, dass wir unser Mandat eng auslegen. Unser Mandat ist die Preisstabilität, wir kümmern uns um die Finanzstabilität und die Bankenaufsicht. Leider ist der Klimawandel zunehmend ein signifikantes finanzielles Risiko, das wir nicht ignorieren können. Bei der Frage nach den Effekten des Klimawandels auf die Inflation, also ob der Preisdruck dadurch stärker oder schwächer steigen wird, gibt es aktuell keine eindeutige Antwort. Aktuelle Studien weisen auf möglichen Inflationsdruck infolge steigender Nahrungsmittel- und Energiepreise hin. Darüber hinaus können häufigere Extremwettereignisse wie Dürren oder Überschwemmungen die Volatilität von Preisen und Output erhöhen.
Wie dürfte sich wiederum die grüne Transformation der Wirtschaft auf die Inflation auswirken?
Insbesondere auf kürzere Sicht ist ein Aufwärtsdruck auf die Preise möglich, das hängt aber stark von den konkreten klimapolitischen Maßnahmen ab. Mittel- bis langfristig dürfte dieser Inflationsdruck jedoch nachlassen, wenn die Volkswirtschaften dekarbonisiert werden und Innovationen die Kosten für die Reduzierung der Kohlenstoffemissionen senken.
Sie haben eben die zunehmenden finanziellen Risiken durch den Klimawandel angesprochen. Berücksichtigt der Finanzsektor diese bereits ausreichend?
In Europa, aber auch weltweit werden Klimarisikostresstests durchgeführt. Ein Großteil der internationalen Aufsichtsbehörden nimmt die NGFS-Szenarien als Basis für diese Tests. Die Finanzinstitute fangen zudem an, die Klimarisiken in ihre Risikomodelle einzuarbeiten. Aber da ist noch Luft nach oben.
Die bisherigen Klimarisikostresstests werden teilweise als zu granular und wenig praxisorientiert kritisiert. Was plant das NGFS, um diese methodischen Schwächen anzugehen?
Die Szenarien, die genutzt werden, haben aktuell eher einen Zeithorizont bis 2050. Unser Ziel ist, künftig auch Szenarien mit einem Zeithorizont von drei bis fünf Jahren anzubieten. Wenn ein Vorstandsvertrag drei bis fünf Jahre läuft, dann ist das der Zeitraum, der für den Manager relevant ist. Dass die Klimarisiken und Chancen der grünen Transformation auch von weiten Teilen der Bevölkerung nicht stärker berücksichtigt werden, hängt stark damit zusammen, dass Menschen im Hier und Jetzt leben.
Welchen Ratschlag haben Sie an Banken und Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeitsberichterstattung?
Was Banken, aber vor allem der Realwirtschaft wirklich hilft, ist, aufzuzeigen, wie sie mit dem Klimawandel und den konkreten klimapolitischen Maßnahmen umgehen werden. Also, welchen Weg wollen sie einschlagen, um schrittweise zu einer nachhaltigeren Produktion zu gelangen. Auf diese Transitionspläne werden Investoren in Zukunft immer stärker schauen.
Kommen wir von der Klimapolitik zu Geopolitik. Die geopolitischen Spannungen nehmen zu, nicht nur durch den Wahlsieg Donald Trumps in den USA. Ist der Multilateralismus in der Krise?
Alle Industriestaaten, aber auch viele Schwellenländer, profitieren vom Multilateralismus. Dieses Narrativ hat nicht an Bedeutung verloren. Ich habe das Privileg als Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank bei den Treffen der G7 und G20 dabei zu sein. Die G7 sind in den letzten Jahren wieder stark zusammengewachsen und haben an Bedeutung gewonnen. Bei den G20 ist die Situation durch die geopolitische Lage schwieriger. Aber man muss positiv werten, dass die G20-Staaten nach wie vor an einem Tisch sitzen, miteinander sprechen und verhandeln.
Grundsätzlich kann ich sagen, dass der globale Süden mehr Einfluss bekommen muss und hat.
Sabine Mauderer, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank
Auch bei anderen Organisationen wie der WTO oder der Weltbank sind die Staaten nach wie vor in Gesprächen. Allerdings waren diese Organisationen schon mal schlagkräftiger. Braucht es größere Reformen, die auch dem sogenannten globalen Süden mehr Einfluss geben?
Grundsätzlich kann ich sagen, dass der globale Süden mehr Einfluss bekommen muss und hat. Daher war es mir auch sehr wichtig, diese Länder beim NGFS stärker zu integrieren und ihnen Mitverantwortung zu geben. Deshalb habe ich Fundi Tshazibana, Vizepräsidentin der südafrikanischen Notenbank, ermuntert, stellvertretende Vorsitzende des NGFS zu werden. Auch abseits des NGFS nimmt der Einfluss des globalen Südens zu. Das kann man beispielsweise am Vorsitz der G20 erkennen, den zuletzt Indien, Brasilien und aktuell Südafrika innehaben.
Werfen wir einen Blick auf Europa. In Deutschland stehen Neuwahlen Ende Februar an. In Frankreich musste Premier Michel Barnier Anfang Dezember nach rund drei Monaten sein Amt wieder räumen. Wie sehr beunruhigen Sie die politischen Turbulenzen in den zwei größten Volkswirtschaften der Eurozone unmittelbar bevor Donald Trump erneut US-Präsident wird?
Erstens warne ich davor, über Extremszenarien einer etwaigen US-Politik zu spekulieren. Die Regierungen weltweit tun dennoch gut daran, verschiedene plausible Szenarien zu analysieren und vorbereitet zu sein auf das, was von den Ankündigungen tatsächlich umgesetzt wird. Zweitens habe ich als für die Märkte zuständiges Vorstandsmitglied bei der Deutschen Bundesbank die Entwicklungen an den Finanzmärkten im Blick. Als der Bruch der Koalition verkündet wurde, war das für den Markt quasi ein Non-Event. Das zeigt, dass die Finanzmärkte Deutschland nach wie vor auf einem soliden Fundament gestellt sehen. Die Anleger trauen Deutschland zu, weiter als Stabilitätsanker zu fungieren und irgendwann auch wieder an ökonomischer Fahrt zu gewinnen.
Sie sprechen die Marktreaktionen an. Waren Sie überrascht, dass der Bruch der Regierung in Paris keine größeren Risikoaufschläge bei den französischen Staatsanleihen ausgelöst hat?
Sehen Sie es mir nach, zu einzelnen Ländern äußere ich mich nicht. Aber die Märkte haben politische und wirtschaftliche Entwicklungen über einen längeren Zeitraum im Blick und stellen sich kontinuierlich auf mögliche neue Konstellationen ein. Allgemein gilt in diesem Zusammenhang, dass solide Staatsfinanzen, wie wir sie in Deutschland haben, sehr hilfreich sind. Das beruhigt nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die Gesellschaft.
In Deutschland wird viel über eine mögliche Anpassung der Schuldenbremse diskutiert. Sehen Sie dafür einen Spielraum?
Solide Staatsfinanzen sind elementar. Die Bundesbank ist aber der Ansicht, dass eine leichte Reform immer noch im Einklang mit einer soliden Haushaltspolitik stünde. Die Betonung liegt aber auf leicht.
Wirtschaftswachstum zu fördern ist die erste Priorität, die die neue Regierung haben sollte.
Sabine Mauderer, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank
Was sind aus Ihrer Sicht die drei drängendsten Punkte, um die sich die neue Bundesregierung im kommenden Jahr kümmern muss?
Wirtschaftswachstum zu fördern ist die erste Priorität, die die neue Regierung haben sollte. Um unseren Wohlstand zu halten, ist Wirtschaftswachstum nötig. Darüber hinaus haben wir Werte, die wir international zu Recht hochhalten. Die können wir aber global nur verteidigen, wenn wir politisches Gewicht haben. Und politisches Gewicht hängt eng mit Wirtschaftskraft zusammen. Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass wir an dieser Stellschraube weiterdrehen und Deutschland auf den Wachstumspfad zurückführen.
Und was sind die beiden anderen Punkte?
Das Thema Wahrung des Friedens bewegt die Menschen und sollte ein wichtiger Baustein der Politik sein. Als dritten Punkt sollte sich die Regierung den Sozialsicherungssystemen widmen, allen voran der Rente.
Sollte die künftige Bundesregierung beim Thema Rente stärker auf den Kapitalmarkt setzen?
Es braucht kapitalgedeckte Elemente für alle drei Säulen. In Schweden etwa gehen 2,5% der gesetzlichen Rentenbeiträge in eine Aktienanlage. Bei diesem Modell muss man sich die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf den Haushalt sorgfältig ansehen. Die Niederlande sind ein gutes Beispiel, wie man kapitalgedeckte Elemente bei der betrieblichen Rente einbaut. Bei der privaten Vorsorge wiederum war in Deutschland ja ein Gesetzesvorhaben auf dem Weg, das große Parallelen zu den Modellen in Großbritannien und Japan hatte. Hier geht es darum, steuergefördert mit Aktien oder anderen Kapitalmarktprodukten privat fürs Alter vorzusorgen. Es gibt in Deutschland auch eine wachsende Bevölkerungsgruppe, die gerne über den Kapitalmarkt für das Alter vorsorgen möchte. Je mehr Menschen gut privat vorsorgen, desto weniger geraten die Sozialsicherungssysteme unter Druck. Auch insofern wäre eine zielgerichtete staatliche Förderung der kapitalgedeckten Elemente in der dritten Säule wichtig.
Ermutigend ist zudem, dass wir sehen, dass gerade gut ausgebildete Menschen unter 40 Jahren eine größere Affinität zum Aktiensparen haben
Sabine Mauderer, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank
Sie sprechen von einer wachsenden Bevölkerungsschicht, die Altersvorsorge über den Kapitalmarkt betreiben möchte. Die Aktionärsquote ist in Deutschland mit 17,6% jedoch im internationalen Vergleich weiterhin gering.
Das ist richtig, der Anteil der Menschen, die Kapitalmarktprodukte haben, ist bei uns verhältnismäßig gering. Aber die Quote steigt stetig. Ermutigend ist zu sehen, dass gerade gut ausgebildete Menschen unter 40 Jahren eine größere Affinität zum Aktiensparen entwickeln. Und das ist ja gerade die Bevölkerungsgruppe, die die Altersvorsorge besonders im Blick hat. Denen ist bewusst, dass sie sich für das Alter ein finanzielles Polster zulegen müssen und dass das mit soliden Kapitalmarktprodukten über viele Jahre hinweg in der Regel besser gelingt als mit dem Sparbuch.
Liegt das am Austausch im privaten Umfeld und an sozialen Medien oder auch an der Schulbildung, dass jüngere Menschen verstärkt das Thema kapitalmarktgedeckte Altersvorsorge für sich entdecken?
Leider kommt die finanzielle Bildung in der Schule viel zu kurz. Wir als Deutsche Bundesbank bieten viel an im Bereich ökonomischer und finanzieller Bildung. Dabei sehen wir, dass Deutschland hier viel mehr machen müsste Bislang ist es weitgehend Eigeninitiative der Menschen, sich finanziell zu bilden. Wenn sie aus einem familiären Umfeld kommen, in dem das Thema Vermögensbildung keine Rolle spielt, dann ist es sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie sich um dieses Thema kümmern.
Was die ökonomische Ungleichheit in Deutschland verstärkt.
Ja, das perpetuiert den sozialen Status, minimiert die sozialen Aufstiegschancen und die Chancen sich ein eigenes Vermögen aufzubauen. Eigentlich müsste es in Schule, Ausbildung und Studium Lehrveranstaltungen zu Finanzthemen geben. Damit die Menschen, bevor sie ihre ersten größeren Gehaltszahlungen bekommen, ein Basiswissen in finanziellen Fragen haben. Außerdem wäre es zu begrüßen, wenn auch größere Unternehmen finanzielle Bildungsangebote für ihre Mitarbeiter schaffen könnten. Für kleinere und mittlere Betriebe ist das vielleicht zu viel verlangt.
In Deutschland gibt es ja das Sprichwort, über Geld spricht man nicht. Müsste sich vielleicht auch das im privaten Umfeld ändern, damit in der Bevölkerung ein größeres Bewusstsein für das Thema finanzielle Bildung entsteht?
Ja, ähnlich wie bei der vorhin erwähnten Einstellung zu berufstätigen Müttern brauchen wir auch bei diesem Thema ein gesellschaftliches Umdenken. Dabei kann im Übrigen helfen, unser gesetzliches Rentensystem mit kapitalgedeckten Elementen zu ergänzen. Ich führe auch hier gerne das Beispiel Schweden an. Hier geht schon seit 25 Jahren ein Teil der Rentenbeiträge in aktienbasierte Produkte. Sicherlich kann man diskutieren, in welcher Form dieses Modell übertragbar ist. Es hat aber dazu geführt, dass Investments an der Börse einfach ein Gesprächsthema in der breiten Gesellschaft geworden sind. Außerdem hat Schweden in Europa eine der höchsten Quoten an börsennotieren kleinen und mittleren Unternehmen. Das zeigt, wie eine kleine Stellschraube viel bewirken kann. Und um mit einer positiven Note zu enden: Ich bin optimistisch, dass wir Deutschland in den nächsten Jahren wieder auf den Wachstumspfad bringen, wenn wir geeint an den richtigen Stellschrauben drehen.
Das Interview führte Martin Pirkl.
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Das Interview führte Martin Pirkl.