Europas ökonomische Basis zerbröselt
Europas ökonomische Basis zerbröselt
McKinsey-Studie beziffert die Wachstums- und Wohlstandsverluste durch die anhaltenden dramatischen Produktivitätsverluste – Mehr Investitionen gefordert
Die Produktivität von Europas Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren dramatisch gesunken. Anhaltende Wachstumsverluste sind die Folge. Ohne eine breitangelegte Investitionsoffensive zerbröselt unser Wohlstand, warnt das McKinsey Global Institute in einer großangelegten Studie.
Von Stephan Lorz, Frankfurt
Das Produktivitätswachstum geht in den Industrieländern seit geraumer Zeit dramatisch zurück. Damit ist nicht nur ein Wachstums-, sondern auch ein Wohlstandsverlust verbunden, wie das McKinsey Global Institute (MGI) in einer großangelegten Studie darlegt und warnt. Während die Produktion in den Industrieländern kaum mehr effizienter wird und die Verteilungsspielräume damit auch immer enger werden, holen die Schwellen- und Entwicklungsländer in großen Schritten auf. Die Schwellenländer, so die McKinsey-Ökonomen, befinden sich „auf der Überholspur“. Wenn sie dieses Tempo beibehielten, würden sie sich etwa innerhalb des nächsten Vierteljahrhunderts dem Produktivitätsniveau der entwickelten Volkswirtschaften annähern.
Asset-Price-Inflation bekämpfen
Produktivität wird in der Regel in Output pro Stunde gemessen. Sie ergibt sich etwa durch Investitionen in den und durch den Einsatz von Finanzkapital für den Kapitalstock sowie Innovationen in allen Bereichen. Einen anderen Teil der Produktivität bewerkstelligt das Humankapital: Je besser ausgebildet die Mitarbeiter eines Unternehmens sind und je mehr sie sich in die Prozesse einbringen und dort leisten, desto mehr und bessere Produkte werden hergestellt und können aufgrund ihrer Qualität zu höheren Preisen verkauft werden.
Produktivitätswachstum ist nach Ansicht von McKinsey daher der Wachstumstreiber schlechthin und das beste „Gegengift“ gegen die Asset-Price-Inflation der vergangenen 20 Jahre, wie es in der Studie heißt. Die Aktien- und Immobilienvermögen seien der Realwirtschaft weitgehend enteilt und es seien 160 Bill. Dollar an „Papiervermögen“ an den Kapitalmärkten geschaffen worden – nicht zuletzt noch aufgestockt durch einen großen Brocken an Verschuldung. Eine höhere Produktivität könne diesen Abstand wieder verringern und möglicherweise einen Finanzcrash vermeiden, der bevorstehe, wenn sich Realwirtschaft und Kapitalmarkt noch weiter voneinander entfernen, warnen die MGI-Analysten.
Demografische Herausforderung
Hinzu kommen die anstehenden großen transformatorischen Herausforderungen: Die Klimawende, die enorme Investitionen benötige, sei nur durch mehr Wertschöpfung und Innovationen zu bewältigen. Nebeneffekt: Ein damit induziertes höheres Wachstum geht in der Regel auch mit höheren Steuereinnahmen einher, die nötig sind, um staatlicherseits die Umweltpolitik zu gestalten und soziale Härten auszugleichen.
Auch die demografische Herausforderung braucht zu ihrer Bewältigung mehr wirtschaftliche Effizienz und Produktivität als Basis, damit die (weniger) jungen Menschen in der Lage sind, die (mehr) alten Menschen im Ruhestand mitzufinanzieren. Von notwendigen Investitionen in die entsprechende Infrastruktur ganz zu schweigen.
Weltweit hat die durchschnittliche Arbeitsproduktivität (Median) nach Untersuchungen von MGI in den Jahren 1997 bis 2022 von 7.000 Dollar pro Arbeiter auf 41.000 Dollar zugelegt; im Jahresdurchschnitt ein Plus von 7,3%. In den USA stieg die Produktivität zwischen 1997 und 2007 noch um 2,1%, zwischen 2012 und 2019 nur noch um 0,7%. In Deutschland lag das Produktivitätswachstum im ersten Zeitraum noch bei 1,6%, im zweiten aber nur noch bei 0,8%. Ähnlich ist die Entwicklung auch in anderen westeuropäischen Industrieländern.
Kapitalstock blutet aus
Das verlangsamte Wachstum des Kapitalstocks, also die Investitionen in Maschinen und Infrastruktur sowie in Ausbildung, erklärt nach Erkenntnissen des MGI 90% des Produktivitätsverlustes in den USA, aber 100% des Verlustes in Europa. Seit 1997, kritisieren die Forscher, gingen die Investitionen unterm Strich zurück.
Überraschend für sie war die Erkenntnis, dass sich die verstärkte Digitalisierung in diesem Zeitraum nicht direkt positiv bemerkbar gemacht hat bei der Produktivitätsentwicklung. Das mag zum einen auf eine gewisse Zeitverzögerung zurückzuführen sein und mit gegenläufigen Effekten in betroffenen Branchen (Onlinehandel/stationärer Handel) zusammenhängen, meint MGI. Aber auch mit der unvollständigen Digitalisierung, weil der Digitalboom nicht stark genug in andere Branchen hineingestrahlt hat.
Hätten die USA keinen Rückgang der Produktivität erlebt, so MGI, wäre die Wertschöpfung pro Kopf um 8.900 Dollar im Jahr höher; in Frankreich, Deutschland und Großbritannien wären es zwischen 3.500 und 5.900 Dollar. Das ist eine Größenordnung, die sich durchaus im Wirtschaftswachstum sowie in den Steuereinnahmen deutlich niedergeschlagen hätte.
Wachstumspolitik fehlt
Als Gründe für den Rückgang der Investitionen gibt MGI den Mangel an wirksamer Wachstums- und Wettbewerbspolitik an und die Zurückhaltung der Banken bei der Finanzierung von Projekten. Regulierung und Besteuerung müssten Innovationen künftig noch stärker fördern, und Bürokratie müsse noch konsequenter abgebaut werden, so die Forderung der McKinsey-Ökonomen.
Ein verstärkter Einsatz neuer Technologien könnte die Produktivität nach ihrer Einschätzung immerhin um 0,5 bis 1,0 Prozentpunkte nach oben treiben. Und den Impuls von künstlicher Intelligenz (KI), die sich in vielen Branchen ausbreitet und in Prozesse sowie Produkte integriert wird, hält McKinsey sogar für so groß, dass er für sich genommen einen Produktivitätsschub von 0,5 Prozentpunkten liefern könnte. Zumal künstliche Intelligenz gerade in den Industrieländern, die von demografischen Veränderungen geplagt werden, eine Hilfe wäre, um den grassierenden Fachkräftemangel auszugleichen durch weitere Automatisierung wie in der Industrie seinerzeit durch den Robotereinsatz.
Interview mit McKinsey-Ökonom Jan Mischke