Scholz bei EU-Gipfel

„Ich habe mich wohlgefühlt“

Der erste EU-Gipfel in der Post-Merkel-Ära hatte gleich wieder allerlei Konfliktstoff auf der Tagesordnung: Bedrohungen von außen und Uneinigkeiten im Inneren. Bundeskanzler Olaf Scholz schien keine große Eingewöhnungszeit zu brauchen.

„Ich habe mich wohlgefühlt“

Von Andreas Heitker, Brüssel

Für Olaf Scholz war auf seinem ersten EU-Gipfel erst einmal Sitzfleisch gefragt: Es war schon nach Mitternacht, als der Bundeskanzler ge­meinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Brüssel vor die Presse trat. 14 Stunden hatten die Beratungen der europäischen Staats- und Regierungschefs da gedauert. Für Scholz kein Problem, wie er selbst beteuerte: Schließlich habe er gerade erst Koalitionsverhandlungen hinter sich, und es habe ihn nicht überrascht, dass es auf dem Europäischen Rat zugegangen sei wie woanders auch. „Eine wichtige und gute Erfahrung“, sagte der Kanzler dann noch in seinem routiniert wirkenden Tonfall. „Ich habe mich wohlgefühlt.“

Der Gipfel hatte auch durchaus eine facettenreiche Agenda. Die Angst vor der sich immer stärker ausbreitenden Omikron-Variante hatte die Pandemie-Bekämpfung auf der Tagesordnung ganz nach oben rücken lassen. Dass wieder Länder wie Italien mit nicht abgestimmten Reisebeschränkungen vorgeprescht sind, sorgte eher für Verständnis als für Streit – auch wenn weder Scholz noch Macron eine Testpflicht für Geimpfte aus anderen EU-Ländern unterstützen. Schlussfolgerungen wurden zügig verabschiedet.

Ein völlig anderes Bild zeigte sich dann aber in der Energiepolitik. Trotz zweier Anläufe am Nachmittag und am Abend war es den Staats- und Regierungschefs nicht gelungen, hier auch nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. EU-Ratspräsident Charles Michel musste nach den stundenlangen Beratungen daher zerknirscht bestätigen: „Wir haben festgestellt, dass es unterschiedliche Meinungen am Tisch gab und wir keine Einigung über die vorgelegten Schlussfolgerungen erzielen konnten.“

Eine Gruppe von Ländern verlangt angesichts der aktuell hohen Preise weiter politische Eingriffe in das System – dazu gehören EU-Schwergewichte wie Frankreich und Spanien. Polen und Ungarn schossen sich in Brüssel insbesondere auf das Emissionshandelssystem ETS ein. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki kritisierte etwa die schwankenden CO2-Preise, von denen seiner Meinung nach vor allem Spekulanten profitierten.

Drohungen an Moskau

Dabei hatten jüngste Analysen der europäischen Marktaufsichtsbehörde ESMA sowie der europäischen Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) klar ergeben, dass es derzeit keinerlei Hinweise auf Marktmanipulationen gibt – weder beim ETS noch auf den europäischen Strom- oder Gasmärkten.

Scholz blieb daher auch auf diesem Europäischen Rat bei der ursprünglichen deutschen Haltung, wonach keine Markteingriffe notwendig sind. Aber auch bei der Beurteilung der künftigen Rolle der Atomkraft im EU-Energiemix blieben die Mitgliedstaaten gespalten. Hier kämpfte Scholz in Brüssel wohl eher auf verlorenem Posten. Es sieht derzeit nämlich ganz so aus, als wenn sich hier Macron und seine Unterstützer durchsetzen werden und die EU-Kommission in Kürze in der Taxonomie die Atomenergie als „nachhaltig“ einstufen wird – mit allen positiven Konsequenzen in Bezug auf Finanzierung und Förderung.

Der Bundeskanzler versuchte nach dem Gipfel, das Thema herunterzuspielen: Am Ende könne weiter jeder Mitgliedsstaat selbst über seinen Energiemix entscheiden, sagte er. „Die Taxonomie ist ein kleines Thema in einer ganz großen Frage.“

Großen Zusammenhalt war dagegen wieder im Außenpolitikteil des Gipfels zu spüren. Gerade bei den äußeren Bedrohungen, so der Bundeskanzler, habe er gemerkt, dass in Europa „etwas zusammenwächst“. Und so gab es klare Signale in Richtung Russland. Eine weitere militärische Aggression gegen die Ukraine würde „massive Konsequenzen und hohe Kosten“ haben, heißt es in der Gipfelerklärung. Der Ukraine wird die volle Solidarität der EU zugesichert.

Und einen Murmeltiermoment hatten die Brüsseler Beratungen dann erwartungsgemäß auch noch zu bieten: den turnusgemäßen Euro-Gipfel. Schon mehrfach hatten die Staats- und Regierungschefs bei ihren Treffen die Bedeutung der Banken- und Kapitalmarktunion hervorgehoben und ihre Finanzminister aufgefordert, innerhalb des nächsten halben Jahres unter anderem einen Fahrplan zur Vollendung der Bankenunion vorzulegen. Sechs Monate später müssen die Finanzminister – Olaf Scholz wird sich erinnern – dann eingestehen, dass sie noch nicht so weit sind. Und erhalten von ihren Chefs dann den Auftrag, ein halbes Jahr später aber wirklich zu liefern. So war es auch dieses Mal. Wiedervorlage im Juni.

Forderungen der Industrie

Die deutsche Wirtschaft gab Scholz im Anschluss an seinen ersten Gipfel noch mit auf den Weg, er möge doch bitte für „eine ambitionierte Vision zur Vertiefung des europäischen Binnenmarktes“ kämpfen. Diese wäre nach Einschätzung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) gerade zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie dringend erforderlich. „Die Politik darf nicht aus dem Blick verlieren, dass nur ein wirtschaftlich starkes Europa mit einer wettbewerbsfähigen Industrie und einem integrierten Binnenmarkt ein politisch starkes Europa ist, das seine Interessen, Standards und Werte in der Welt einbringen und verteidigen kann.“

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