„Jetzt laufen wir der Musik hinterher“
Alexandra Baude.
Herr Brzeski, spült die vierte Coronawelle die Wirtschaft in Deutschland und im Euroraum in eine erneute Rezession?
Nach dem starken Wachstumsschub im zweiten und dritten Quartal war eine Abkühlung der Wirtschaft relativ einfach zu erwarten. Nun kommen zu den hohen Energiepreisen und anhaltenden Lieferengpässen auch noch Unsicherheit und sehr wahrscheinlich mehr Lockdowns auf uns zu. Das sollte die Wirtschaft in Deutschland und im Euroraum in die Nähe einer Stagnation zur Jahreswende bringen. Eine (technische) Rezession kann man aktuell nicht mehr ausschließen.
Wie lange werden die globalen Materialengpässe das Wachstum noch belasten – und wie schlimm wird es noch?
Richtig schlimm wird es erst, wenn Aufträge storniert werden. Ansonsten verschieben die Engpässe den Industrieaufschwung, aber sie würgen ihn nicht ab. Erste Verbesserungen sollten wir zur Jahreswende sehen. Bei Materialien wie Magnesium oder Mikrochips sollte es erst nach Ende des chinesischen Neujahrs Verbesserungen geben, da viele Produzenten auch erst einmal die Nachfrage in der eigenen Region bedienen werden. Es wird allerdings bis Ende 2022 dauern, bis wir nicht mehr über Engpässe reden müssen.
Die Engpässe und die rasant steigenden Energiekosten haben die Inflation kräftig steigen lassen – ist das wirklich noch ein temporäres Phänomen, wie die Europäische Zentralbank (EZB) postuliert?
Der Begriff „temporär“ ist ziemlich dehnbar. Tatsache ist, dass die EZB die Inflation lange unterschätzt hat. Gleichzeitig sind viele Gründe der hohen Inflation eng mit der Pandemie verbunden und damit in der Tat zeitlich begrenzt. Viele dieser Inflationstreiber werden im Laufe des kommenden Jahres an Schwung verlieren und die Inflation in der zweiten Jahreshälfte wieder Richtung 2% bewegen. Das nimmt nicht weg, dass es strukturell in den kommenden Jahren deutlich mehr Inflationstreiber geben wird als im vergangenen Jahrzehnt.
Über den weiteren Kurs der EZB wird heftig diskutiert: PEPP im März beenden oder pausieren, die Flexibilität des PEPP erhalten, APP aufstocken – was wäre das Beste für die Euro-Wirtschaft?
Ein Übergangsprogramm mit der Flexibilität des PEPP, das einerseits als Sicherheit dient, sollte die Konjunktur nach der Winterdelle nicht wieder anziehen, das andererseits aber auch schnell und einfach beendet werden kann. Das Dezember-Treffen der EZB wird wohl im Zeichen von „Geschwindigkeit drosseln ist kein Bremsen“ stehen.
Welche Probleme sollte die neue deutsche Bundesregierung unbedingt als Erstes angehen?
Die vierte Coronawelle stoppen. In den ersten Wellen hat Deutschland im europäischen Vergleich immer sehr frühzeitig reagiert. Jetzt laufen wir der Musik hinterher. Danach kann man sich den ambitionierten Plänen des Koalitionsvertrages widmen. Als Erstes geht es hier darum, Investitionen auf den Weg zu bringen, da es eine Weile dauert, bis die realwirtschaftlichen Folgen spürbar sind. Parallel dazu sollte die Regierung einen deutlichen und verbindlichen Stufenplan für die grüne Transition präsentieren.
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