Kwarteng setzt auf Wachstum statt Umverteilung
hip London
Der britische Schatzkanzler Kwasi Kwarteng hat die umfassendsten Steuersenkungen seit 1972 angekündigt. Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der neuen Regierung ist damit klar: Wachstum statt Umverteilung. Ziel ist ein mittelfristiges Trendwachstum von 2,5%. „Wachstum ist nicht irgendein akademischer Begriff ohne jede Verbindung zur Realität“, sagte Kwarteng. „Es bedeutet mehr Arbeitsplätze, höhere Einkommen und mehr Geld zur Finanzierung von öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen und dem NHS (National Health Service).“ Zudem erhöhte er den Freibetrag für die Stempelsteuer, die bei Immobilienkäufen anfällt. Erstkäufer zahlen künftig bis zu einem Kaufpreis von 425000 Pfund überhaupt keine Stempelsteuer mehr.
Die Regierung nannte zudem erstmals eine Schätzung der Kosten, die aus ihrer Sicht mit dem von Premierministerin Liz Truss verkündeten Einfrieren der Energiekosten von privaten Haushalten und Unternehmen verbunden sein werden. Kwarteng hat dafür für die ersten sechs Monate 60 Mrd. Pfund angesetzt, von denen 31 Mrd. Pfund an die privaten Verbraucher und 29 Mrd. Pfund an Firmen gehen sollen. Am Markt kursierten zuvor weitaus höhere Summen – meist gestützt auf steile Annahmen zur Gaspreisentwicklung und ohne Berücksichtigung einer – durchaus wahrscheinlichen – Reduzierung des Energieverbrauchs.
Besserverdiener profitieren am stärksten: Rishi Sunaks Nachfolger will unter anderem den Spitzensteuersatz streichen und den Einstiegssteuersatz um einen Prozentpunkt auf 19% senken. Alles in allem summieren sich die Steuererleichterungen auf 26 Mrd. Pfund. Zugleich will er die von Sunak vorangetriebenen Steuer- und Abgabenerhöhungen im Volumen von rund 18 Mrd. Pfund rückgängig machen bzw. gar nicht erst in Kraft treten lassen. Die Körperschaftsteuer wird nicht von 19% auf 25% erhöht, die Erhöhung der Beiträge zur Sozialversicherung revidiert. Insgesamt stehen Entlastungen von rund 45 Mrd. Pfund an. „Im Vergleich zu der Regierung von vor ein paar Monaten ist das eine vollständige Kehrtwende“, sagte Paul Johnson, Director beim Institute for Fiscal Studies. „Als wäre eine neue Regierung an die Macht gekommen.“ An den Märkten stiegen die Renditen britischer Staatsanleihen, das Pfund geriet weiter unter Druck, nachdem es bereits auf dem tiefsten Stand seit 1985 in den Handel gegangen war. Die Marktreaktionen seien verständlich, urteilten die Volkswirte der HSBC. Die Stimuli gingen weit über die Vorankündigungen hinaus und seien mit erheblichen Kosten verbunden. Die fiskalischen Stützungsmaßnahmen näherten sich in den kommenden beiden Jahren dem in der Pandemie erreichten Niveau, schrieben Elizabeth Martins und Simon Wells in einer ersten Einschätzung. Der Unterschied bei den geldpolitischen Rahmenbedingungen könne dagegen größer nicht sein. Die Bank of England erhöht die Zinsen und wird am 3. Oktober damit beginnen, den seit der Finanzkrise zusammengekauften Staatsanleihenberg abzutragen.
Zur Finanzierung der Maßnahmen äußerte sich Kwarteng nicht näher. Die Resolution Foundation schätzt die Kosten für die kommenden fünf Jahre auf 411 Mrd. Pfund.