Wohin steuert die Weltwirtschaft?
Von Mark Schrörs, Frankfurt
Ein neues Schreckensszenario macht derzeit vermehrt bei Ökonomen und Finanzmarktakteuren die Runde: „Stagflation“. Gemeint ist der Gleichklang aus wirtschaftlicher Stagnation und Inflation wie in den 1970er Jahren. Und längst ist es nicht mehr nur der als „Dr. Doom“ bekannte US-Ökonom Nouriel Roubini, der vor einem solchen Szenario warnt und sogar aktuell schon eine „milde Stagflation“ attestiert. Inzwischen sind es auch Volkswirte wie Ex-US-Finanzminister Larry Summers und Ex-IWF-Chefvolkswirt Kenneth Rogoff, die Parallelen zwischen den 1970er Jahren und heute sehen – inklusive politökonomischer Probleme. Rogoff findet gar „die lange Liste der Ähnlichkeiten zwischen den 1970er Jahren und heute verstörend“.
Wie groß ist diese Gefahr wirklich? Mehr noch: Wo steht die Weltwirtschaft und wohin steuert sie in den nächsten Monaten? Diese Fragen werden auch die Finanzminister und Notenbankchefs aus aller Welt umtreiben, die in der kommenden Woche bei der hybriden Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) beraten und diskutieren.
Schnelle Konjunkturerholung
Zunächst einmal besteht sicher Grund zur Freude: Die globale Wirtschaft hat die Coronakrise schneller hinter sich gelassen als anfangs gedacht. Nach einem vom IWF geschätzten Minus beim weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) von gut 3% im Jahr 2020 dürfte dieses Jahr ein kräftiges Plus zwischen 5% und 6% zu Buche stehen. Das ist vor allem der beispiellosen wirtschaftspolitischen Reaktion zu verdanken. Die Zentralbanken fluteten Wirtschaft und Finanzmärkte. Die Bilanzen der Fed (USA), EZB (Euroland), Bank of Japan und Bank of England wuchsen seit Dezember 2019 um weit mehr als 10 Bill. Dollar. Zugleich mobilisierten die führenden Volkswirtschaften allein 2020 die gigantische Summe von mehr als 13 Bill. Dollar an fiskalischen Hilfen.
Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, legte vergangene Woche für den Euroraum dar, dass die jetzt beobachtete Erholung die steilste seit dem Jahr 1975 sei. Die Euro-Wirtschaft werde wohl Ende des Jahres wieder ihr Vorkrisenniveau erreichen – und damit drei Quartale früher als noch Ende 2020 gedacht. Und sie werde wohl schon 2023 an ihren Vorkrisentrend anschließen. Tatsächlich vollzieht sich die wirtschaftliche Erholung weltweit viel rascher als nach der Weltfinanzkrise 2008/2009.
Allerdings verläuft die Erholung sehr uneinheitlich, was nicht zuletzt mit dem unterschiedlichen Zugang zu Corona-Impfstoffen zu tun hat. Fakt ist zudem, dass bislang nur wenige Länder den pandemiebedingten Schaden ausgeglichen haben. Die USA erreichten im zweiten Quartal dieses Jahres beim BIP das Vorkrisenniveau. Viele andere bedeutende Wirtschaftsregionen haben das bislang noch nicht geschafft, wie die Industrieländerorganisation OECD in ihrem aktuellen Wirtschaftszwischenbericht dargelegt hat (siehe Grafik). Unter den führenden G7-Staaten hinkt dabei vor allem Großbritannien hinterher. Deutschland hat nach Einschätzung der Bundesbank das Vorkrisenniveau im Sommer erreicht oder aber wird das im Herbst schaffen.
Noch mehr Sorgen bereitet jetzt aber, dass die globale Wirtschaftserholung zuletzt deutlich an Dynamik verloren hat. Das gilt insbesondere für China, das gilt mit Abstrichen aber auch für die USA – mithin also für die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die zuletzt die Konjunkturlokomotiven waren. Grund dafür ist zum einen die Ausbreitung der Delta-Variante. Mehr noch aber sind es jetzt zum anderen die Engpässe bei vielen Rohstoffen und Vorprodukten wie Halbleitern, die speziell die Industrie ausbremsen (siehe Text unten auf dieser Seite). Und jetzt kommen auch noch die rasant steigenden Energiepreise hinzu, die auch die Verbraucher belasten. In Deutschland etwa zeichnet sich für das vierte Quartal allenfalls noch ein geringes BIP-Plus ab.
Zugleich hat die Inflation weltweit seit Jahresbeginn unerwartet stark angezogen. In den USA liegt die Verbraucherpreisinflation seit Monaten oberhalb von 5%. Im Euroraum könnte sie im November die 4-Prozent-Marke knacken. Allen voran die US-Notenbank Fed und die EZB halten das zwar nach wie vor für primär vorübergehend. Allerdings nehmen die Zweifel an dieser Sichtweise zu, und auch die Notenbanker selbst scheinen zunehmend besorgt.
Es ist diese Melange, die aktuell die Stagflationsdebatte befeuert. Und tatsächlich gibt es noch eine Reihe weiterer Risikofaktoren für die Konjunktur: die Probleme bei Chinas Immobilienriesen Evergrande, der anhaltende Schuldenstreit in den USA oder die steigenden US-Renditen. Vieles spricht aber aktuell weiter dafür, dass das globale Wachstum auch 2022 robust bleibt. Das gilt insbesondere für die in der Krise enorm aufgestockten Ersparnisse der privaten Haushalte. Laut ING lag etwa das private Vermögen der US-Haushalte Ende des zweiten Quartals 2021 bei 159,3 Bill. Dollar. Das sollte perspektivisch den Konsum stützen. Auch der anstehende Wiederaufbau der Lagerbestände dürfte künftig ein Treiber sein. Zudem scheint der wirtschaftliche Schaden bei jeder neuen Coronawelle abzunehmen. Und schließlich ist da die anhaltende Unterstützung der Wirtschaft durch die Fiskal- und die Geldpolitik – trotz erster Schritte zur Normalisierung.
Auf den weiteren Kurs der Notenbanken wird es da nun ganz entscheidend ankommen – auch mit Blick darauf, eine Stagflation zu verhindern. Einerseits gilt es, eine abrupte Kehrtwende in der Geldpolitik zu vermeiden. Andererseits müssen die Zentralbanken Sorge tragen, dass insbesondere die Inflationserwartungen nicht über Gebühr anziehen und die Inflation nicht doch außer Kontrolle gerät. IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath hat deshalb unlängst ein klares Bekenntnis zu Preisstabilität gefordert – und im Notfall konkretes Handeln. Das gilt zuvorderst für die USA, aber auch für Großbritannien – was den jüngsten „hawkishen“ Schwenk der beiden Zentralbanken in Richtung womöglich rascherer Zinserhöhungen erklärt. Die Notenbanken stehen da vor einer diffizilen Gratwanderung.