Chinas Aufpasser zerschlagen Börsenporzellan
Von Norbert Hellmann, Schanghai
Über ein Jahrzehnt hinweg haben chinesische Internet- und Technologieunternehmen mit ihren praktisch durchweg erfolgreichen Börsengängen in New York eine wunderbare Globalisierungsgeschichte geschrieben. Wenn das riesige Wachstumspotenzial für chinesische Internetdienste vom Anlegerkapital am weltgrößten und effizientesten Aktienhandelsplatz unterfüttert wird, gibt es durchaus Anlass, von einer „Win-win-Situation“ zu sprechen. Mit der Herrlichkeit ist es nun vorbei. Gegenwärtig beherrscht die Misere rund um Chinas politisch motivierte Kontrolloffensive im Techsektor und dem gigantischen Wertverfall chinesischer Internetaktien das Narrativ und lässt die Wall-Street-Präsenz von Chinas Datenkonzernen zum Politikum verkommen.
Im Zuge der chinesischen Regulierungskampagne bei Techunternehmen gibt es plötzlich eine neue Instanz, die sich in alle Fragen einmischt, die Börsengänge und ausländische Kapitalmarktpräsenz von chinesischen Techunternehmen betreffen. Dabei führt sich die zuvor kaum öffentlich in Erscheinung getretene Cyberspace Administration of China (CAC) wie ein Elefant im Porzellanladen auf. Das Resultat ist eine dramatische Vertrauenskrise, die das Anlegersentiment gegenüber Chinas eigentlich hervorragend aufgestellter Techbranche vergällt, weil das Risikokalkül von politischen Unwägbarkeiten überlagert wird.
Als Schicksalsdatum für Börsenhistoriker kann der 30. Juni gelten, jener Tag, als Chinas führender Fahrdienst Didi Global mit einem 4,4 Mrd. Dollar schweren Initial Public Offering (IPO) trotz bereits widriger Marktbedingungen an der Wall Street aufkreuzte. Drei Tage nach dem Handelsstart trat die CAC auf den Plan und bezichtigte Didi, eine Art Landesverrat begangen zu haben: Das Unternehmen habe sich als ein über „hochsensible Daten“ verfügender App-Betreiber in die Fänge von US-Investoren und der US-Wertpapieraufsicht begeben und sei damit zur Sicherheitslücke geworden. Dann wurde Didi für das scheinbar ungeheure sicherheitspolitische Vergehen mit einer Reihe von Strafmaßnahmen, darunter einer noch immer geltenden Neukundensperre für die App, belegt und damit quasi zur Wachstumslosigkeit verdammt.
Umfeld vergiftet
Der Cybersecurity-Blitz hat freilich nicht nur bei der Aktie des frischgebackenen Börsenneulings eingeschlagen, sondern das Umfeld für die gesamte chinesische Diaspora an den New Yorker Börsen vergiftet. Es stellt sich die Frage, ob die Wall Street im Zuge der sicherheitspolitischen Streitigkeiten zwischen China und den USA künftig noch eine bewohnbare Heimat für chinesische Datenkonzerne abgibt. Niemand kann so richtig nachvollziehen, warum Didi und ihr auf chinesischen Servern gespeicherter Kundendatenschatz über städtische Mobilität durch den herkömmlichen Informationsfluss via Anlegerpublizität und Investor Relations Chinas nationale Sicherheit kompromittiert. Und wenn Didi so gefährlich ist, warum sind es dann nicht andere seit Jahren in New York gelistete Techriesen wie Alibaba, die über ziemlich alles Bescheid wissen, was Chinas Verbraucher so treiben?
Mit dem Präzedenzfall Didi hat sich die CAC zum neuen Kontrolleur für China-IPOs im Ausland aufgeschwungen und einen hastigen Regelkatalog aufgestellt, der Börsenanwärter ab sofort vor eine Art Fahrprüfung in Sachen Datensicherheit stellt. Vor Erhalt des IPO-Führerscheins darf sich also niemand mehr in den New Yorker Börsenverkehr begeben. Das Regelwerk ist völlig nebulös, und niemand im Kreis vielversprechender chinesischer Start-up-Firmen wagt es überhaupt, sich dem Test zu stellen.
Aber es kommt noch schlimmer. Didi ist von der CAC zur „Rehabilitation“ gezwungen worden und hat nun kleinlaut bekannt gegeben, sich wieder vom New Yorker Kurszettel verabschieden zu wollen, also ein Delisting anzustreben. Das ist nach gerade einmal ein paar Monaten Börsendasein, in denen der Marktwert des Fahrdienstleisters von 77 auf 32 Mrd. Dollar geschrumpft ist, ein Klagefall, wenn die Aktie nicht wenigstens zum Emissionspreis abgelöst wird. Ergo will man einen anderen Weg gehen und sich zunächst ein Zweitlisting an der Hongkonger Börse beschaffen. Dann könnten zumindest weite Teile der Anleger ihre US-Anteilscheine in Hongkonger Aktien umtauschen. Zugleich könnte Didi ihre Kapitalmarktpräsenz aufrechterhalten und näher der Heimat ansiedeln. Das klingt elegant, ist es aber nicht wirklich.
Das Unterfangen Heimfahrt nach Hongkong steckt voller neuer regulatorischer Hindernisse, wird mindestens ein halbes Jahr beanspruchen und lässt keineswegs einen stürmischen Empfang seitens der dortigen Anleger erwarten. Dazu muss man wissen, dass Chinas Festlandanleger zwar via die Stock Connect genannte Handelsverknüpfung Hongkonger Aktien kaufen können, nicht aber die Papiere der dort parallel zu ihrer US-Notierung mit einem Zweitlisting aufgeschlagenen Techgrößen wie Alibaba, Baidu, JD.com oder Netease. Für die Didi-Aktie gibt es damit wenig Hoffnung und für andere chinesische Sektorwerte, die bislang nur in den USA notieren, quälende Ungewissheit, ob sie dort noch eine Zukunft haben oder auch nach Hongkong gescheucht werden.