Notiert in London

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Proteste haben weite Teile des britischen Straßennetzes lahmgelegt. Dahinter steckten nicht radikale Klimaschützer aus gutem Hause, sondern Bürger, denen die hohen Spritpreise zu schaffen machen.

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Chaos an den Flughäfen, Streiks bei der Bahn und nun auch noch Proteste gegen die hohen Spritpreise auf den britischen Autobahnen – Briten, die diesen Sommer nicht auf dem eigenen Balkon Urlaub machen wollen, haben es schwer. Sobald sie sich irgendwohin auf den Weg machen, bekommen sie die rasant gestiegenen Energiekosten zu spüren. Entweder ihnen werden absurde Preise für Flug- oder Bahntickets abverlangt. Oder sie müssen einen wesentlichen Teil ihres Reisebudgets beim Tankwart abgeben. Dagegen regt sich nun Protest.

Über die Preisentwicklung an den Zapfsäulen verärgerte Autofahrer brachten Anfang der Woche Teile des britischen Straßennetzes zum Stillstand, indem sie sich nur noch im Schneckentempo fortbewegten – über alle Spuren hinweg. Betroffen waren unter anderem die Autobahnbrücke über den Fluss Severn, der Wales von England trennt, die M5 in Devon und die A92 in Schottland. Mancherorts wurden auch Traktoren bei den Protesten beobachtet. Bei älteren Briten weckt das Erinnerungen an die wütenden Lkw-Fahrer-Proteste der Jahrtausendwende. In der Downing Street dürfte man sich eher vor einem Phänomen wie den Gilets Jaunes fürchten, den Gelbwesten, die in Frankreich lautstark gegen die bestehenden Verhältnisse revoltierten. Es ist ja nicht nur der Spritpreis, der die Leute auf die Palme bringt, sondern auch steigende Steuern und Sozialversicherungsabgaben.

Hätte Boris Johnson „The Revolt of the Public“ von Martin Gurri gelesen, in dem sich der ehemalige CIA-Analyst mit solchen Bewegungen befasst, wüsste er, dass es nichts bringt, solche Proteste mit harter Hand niederzuschlagen. Am Montag wurden 13 Menschen bei Straßenprotesten festgenommen, die über eine Facebook-Seite namens „Fuel Price Stand Against Tax“ lose koordiniert wurden. Aktivisten wollen weitermachen, solange die Preise nicht sinken. Die Regierung will ihnen mit der ganzen Härte des neuen Polizeigesetzes begegnen, das unter dem Eindruck der Autobahnblockaden von Anhängern der Weltuntergangssekte Extinction Rebellion (XR) verabschiedet wurde. Man habe der Polizei eine Menge neuer Kompetenzen gegeben, um mit solchen Dingen fertig zu werden, und erwarte nun, dass sie auch genutzt werden, hieß es aus dem Sitz des Premierministers. Innenministerin Priti Patel forderte eine Nulltoleranzpolitik gegenüber solchen Protesten.

Würde man nur den „Guardian“ lesen, bekäme man von der Entstehung dieser Bewegung nichts mit. Das Zentralorgan der politischen Korrektheit hievte lieber zwei Aktivisten des XR-Ablegers „Just Stop Oil“ aus Brighton auf Seite 1, die sich in der Londoner Nationalgalerie an einem Gemälde von John Constable festgeklebt hatten, um gegen die Erschließung neuer Öl- und Gasvorhaben zu protestieren. Die Proteste könnten unterschiedlicher nicht sein. Während für XR und andere radikale Klimaschützer aus gutem Hause fossile Kraftstoffe gar nicht teuer genug sein können, wehren sich auf den Straßen Menschen, deren Existenz an ihrem Auto hängt, dagegen, dass die ohnehin dramatische Preisentwicklung durch hohe Steuern und Abgaben noch verschärft wird. Schließlich fließen 46 % des an der Zapfsäule gezahlten Preises dem Schatzamt zu. Eine Gruppe namens Fair Fuel UK fordert bereits eine Senkung der Kraftstoffsteuer um mindestens 20 Pence pro Liter und die Einrichtung einer Aufsichtsbehörde, die sich mit der Preisentwicklung befasst – nicht nur an den Zapfsäulen, sondern über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg.

Das Thema birgt enorme Sprengkraft, nicht zuletzt weil dadurch auch die Klimaschutz- und Elektromobilitätsagenda der Regierung in Frage gestellt wird, über die es bislang keine ernsthafte öffentliche Diskussion gegeben hat. Vielleicht hält sie die hohen Spritpreise ja für einen guten Anreiz, um den Umstieg auf Batteriefahrzeuge voranzutreiben. Zudem braucht Schatzkanzler Rishi Sunak jeden Penny, um die monströsen Ausgabenprogramme der Regierung zu finanzieren. Zum Glück geht es in Großbritannien überaus zivilisiert zu. Mit Unruhen wie in Frankreich muss deshalb nicht gerechnet werden. Aber Johnson wird Farbe bekennen müssen.

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