Klimaschutzgesetz

Klimapolitik am Kipppunkt

Kipppunkte treiben nicht nur Klimaforscher um. Die Politik kann mit immer neuen Klimazielen wie im eilig verschärften Klimaschutzgesetz auch die Industrie an einen „Tipping Point“ führen.

Klimapolitik am Kipppunkt

In der Klimaforschung ist oft von Kipppunkten die Rede. Ein komplexes System wie das Klima lässt sich nach Einschätzung der meisten Experten und ihrer Modelle nämlich nicht so einfach zurück ins Gleichgewicht bringen, wenn erst einmal der „Tipping Point“ überschritten ist. Das gilt auch für klimarelevante Teilsysteme wie den Eisschild über Grönland. Erst vor wenigen Tagen warnten Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und der Arctic University of Norway, dass sich der zentral-westliche Teil des grönländischen Eisschildes destabilisiert habe und kurz vor einem kritischen Übergang stehe, der den Anfang vom Ende der atlantischen Umwälzzirkulation ein­leiten könne, die das Klima in Europa und Nordamerika entscheidend beeinflusst. Der globale Meeresspiegel könne in der Folge um mehr als sieben Meter steigen, auch wenn das noch rund 3000 Jahre dauern dürfte.

Die mit Kipppunkten verbundenen Risiken gilt es aber nicht nur bei der Entwicklung des Klimas zu beachten. Auch die Rahmenbedingungen für einen Wirtschaftsstandort können so verändert werden, dass an einem bestimmten Punkt ganze Branchen in Schieflage geraten und die Wirtschaftsstruktur nachhaltig beschädigt wird. Die Bundesregierung sollte die Kritik der deutschen Industrie am jüngst verschärften Klimaschutzgesetz deshalb sehr ernst nehmen. Erst recht, da die Kritik auch aus Branchen kommt, die zu den Gewinnern des Übergangs in eine klimaneutrale Wirtschaft zählen. Selbst sie stören sich an dem Hauruck-Verfahren, das sich an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe angeschlossen hat, das Ende April Teile des 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetzes als verfassungswidrig einstufte und der Bundesregierung bis Ende 2022 Zeit gab nachzubessern.

Das Kabinett nutzte von dieser Frist nicht einmal zwei Wochen, um eine Gesetzesreform auf den Weg zu bringen, die auch der Industrie bis 2030 noch einmal erheblich größere Anstrengungen bei der Dekarbonisierung abverlangt und die Zeitspanne für die Transformation zur Klimaneutralität mal eben um fünf Jahre verkürzt, ohne die dazu erforderlichen zusätzlichen Maßnahmen zu beschreiben. Die Spitzenverbände der betroffenen Branchen hatten 24 Stunden Zeit, ihre Anmerkungen zu dem Gesetzentwurf anzubringen.

Die Eile war wohl vor allem deshalb geboten, weil die in Umfragen strauchelnden Großkoalitionäre den Grünen in den fünf Monaten bis zur Bundestagswahl nicht die Angriffsfläche eines vom Verfassungsgericht gerügten und noch nicht überarbeiteten Klimagesetzes bieten wollten. Wenn die Europäische Kommission im Sommer ihre Vorstellungen präsentiert, wie der Staatenblock das europäische Klimaschutzziel bis 2030 erreichen soll, könnte es schon wieder Bedarf für Nachbesserungen geben. Irgendwann droht aber selbst die Klimapolitik an einen Tipping Point zu stoßen, an dem mit ihrer Verlässlichkeit auch die Glaubwürdigkeit ihrer Akteure irreparablen Schaden nimmt.

Die Kritik der Industrie an einem politischen Prozess, in dem Emissionsreduktionsziele wie Bingo-Zahlen aufgerufen werden, ist gerechtfertigt, weil er Unsicherheit schafft und den Klimaschutz damit teurer macht. Eine Verschärfung der Klimaziele ist aber nicht nur im Sinne der vom Verfassungsgericht eingeforderten Generationengerechtigkeit. Eine Analyse von Vivid Economics in Zusammenarbeit mit der Investorengruppe hinter den Principles for Responsible Investment hat die technologischen und regulatorischen Risiken des Übergangs in eine dekarbonisierte Wirtschaft für die 1400 größten börsennotierten Unternehmen im vergangenen Jahr auf 1,6 Bill. Dollar oder gut 3% ihrer damaligen Marktkapitalisierung geschätzt. Verzögert die Politik diesen Übergang nur um fünf Jahre, steigt das Risiko für Unternehmen in der Analyse auf 4,5% ihres Börsenwerts, weil die Emissionen schneller und mit höherem finanziellen Aufwand reduziert werden müssen, je länger gewartet wird.

Der Weltklimagipfel in Glasgow im November wird seit Monaten als letzte Chance annonciert, die Weichen in der internationalen Klimapolitik so zu stellen, dass der Klimawandel vor einem desaströsen Kipppunkt zum Halten gebracht werden kann. Ambitionierte europäische Klimaschutzziele mit Deutschland als treibender Kraft sind eine Voraussetzung dafür. Verlässlichkeit geht dabei aber vor Geschwindigkeit. Sonst droht mit der Industrie auch ihre Innovationskraft ins Wanken zu geraten. Dabei ist diese für das Erreichen von Klimaneutralität in Deutschland bis 2045 eine unabdingbare Voraussetzung.