US-Wirtschaft

Scheinbare Widersprüche

Der boomende US-Arbeitsmarkt und die Angst vor einer Rezession schließen sich nicht gegenseitig aus, sie sind das Ergebnis struktureller Veränderungen.

Scheinbare Widersprüche

Die Diskussion wird mindestens bis in den Herbst andauern, wenn mehr Klarheit herrscht über den sich abzeichnenden Rückgang der Inflation und den weiteren geldpolitischen Kurs der Fed: Werden Ökonomen zurückblicken und sagen, dass die US-Wirtschaft schon im Sommer in eine Rezession abgerutscht war? Mehr als die Hälfte der Amerikaner halten diese heute schon für gegeben, amtlich wäre sie aber erst, wenn das National Bureau of Economic Research (NBER) eine Rezession feststellt. Oder wird sich das kräftige Stellenwachstum, ge­paart mit steigenden Löhnen und weiter hohen Verbraucherpreisen, fortsetzen und Konjunkturoptimisten in der Überzeugung bestätigen, dass ein boomender Jobmarkt und eine Rezession sich gegenseitig ausschließen?

Die Kombination aus schwachem oder gar negativem Wirtschaftswachstum und hoher Inflation ist nicht ungewöhnlich. Die Stagflation der siebziger und frühen achtziger Jahre bedeutete, dass US-Haushalte und Unternehmen mehrere Jahre lang mit hohen Preisen und geringem, viermal sogar auf Jahressicht negativem Wachstum zu kämpfen hatten. Doch der Unterschied zu heute: Damals war auch die Arbeitslosenquote, die nicht selten über 10 % kletterte, ebenfalls hoch. In den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres entstanden aber mehr als 3 Millionen neue Arbeitsplätze. Auch fiel die Arbeitslosenquote, die im April 2020 14,7 % erreicht hatte, auf das Vorkrisenniveau von 3,5 %, womit eines der dualen Ziele der Notenbank, nämlich Vollbeschäftigung zu erreichen, realisiert wäre.

Es handelt sich um Widersprüche, die auf den ersten Blick unerklärlich erscheinen, ihre Ursachen aber zumindest teilweise in der Einzigartigkeit der Corona-Pandemie und ihren ökonomischen Folgen haben. So waren Unternehmen in den Jahren vor der Krise getreu der „Hire and fire“-Mentalität, die seit jeher ein prägendes Merkmal des US-Arbeitsmarkts ist, vor dem Hintergrund eines drohenden Konjunkturabschwungs sofort zu Massenentlassungen bereit.

Heute aber halten Firmen auch im Angesicht einer möglichen Krise Mitarbeiter an Bord, fahren die Neueinstellungen womöglich leicht zurück und nehmen lediglich „gezielte“ Stellenstreichungen vor. Auch das war eine Lehre aus der Krise, als Arbeitgeber sich schwer taten, qualifizierte Fachkräfte zu finden, das in vielen Fällen auch heute noch tun und fürchten, kompetente Mitarbeiter nicht ersetzen zu können. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Arbeitsmarkt ungeachtet der zwei aufeinanderfolgenden Quartale negativen Wachstums weiter in so starker Verfassung befindet.

Ein weiteres Rätsel, zumindest auf ersten Blick, besteht darin, dass die gesamte US-Wirtschaftsleistung zur Jahresmitte um mehr als 120 Mrd. Dollar geringer war als Ende 2021. Dabei entstanden in der ersten Jahreshälfte 2,8 Millionen neue Jobs. Wenn mehr Berufstätige weniger produzieren, dann muss die Produktivität geschrumpft sein, und das wird von den Daten des Arbeitsministeriums bestätigt. Im ersten Quartal ging die Produktivität um 7,3 % und von April bis Juni um 4,6 % zurück. Zwei so schwache Werte hatte es in aufeinanderfolgenden Quartalen noch nie gegeben. Ebenfalls eine Folge der Pandemie, als von weniger Mitarbeitern überdurchschnittliche Effizienz gefragt war.

So gesehen stellen negatives Wachstum, Rezessionsängste und der starke Arbeitsmarkt nicht einen Widerspruch dar. Sie spiegeln vielmehr strukturelle Veränderungen wider, die in den letzten zwei Jahren eingetreten sind. Der Paradigmenwechsel erschwert aber auch der Fed den Job. Angesichts des starken Arbeitsmarkts müssten die Währungshüter nämlich theoretisch Raum für mehr Straffungen haben, dürfen aber nicht aus dem Auge verlieren, dass die Rezessionsängste durchaus berechtigt sind.

Dabei sind sich Ökonomen über eines einig: Dass höhere Zinsen früher oder später spürbar auf den Privatkonsum sowie die Unternehmensinvestitionen durchschlagen müssen und die Fed dann dem Vorwurf ausgesetzt sein wird, eine Rezession beschleunigt oder gar heraufbeschworen zu haben. Diesen Schuh müssen sich Notenbankchef Jerome Powell und seine Kollegen im FOMC nicht anziehen. Mit dem Erreichen der Vollbeschäftigung ist die halbe Arbeit getan, nun geht es darum, im Kampf gegen die Inflation den zweiten Teil des „dualen Mandats“ zu erfüllen, auch um den Preis einer möglichen Rezession, die, sollte es dazu kommen, durchaus milde ausfallen könnte.

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