US-Arbeitsmarkt boomt, trotzdem nehmen die Sorgen zu
Seit Mai 2020, als die Wirtschaft gerade den ersten Schock der Corona-Pandemie verarbeitet hatte, boomt der US-Arbeitsmarkt. Zwar hat der Aufschwung zuletzt ein wenig an Tempo eingebüßt. Im August kletterte die Arbeitslosenquote wieder, um 0,2 Prozentpunkte auf 3,7 %. Das allerdings muss in Relation zu dem steten Beschäftigungsaufbau der vorangegangenen Jahre gesehen werden. Während der letzten 28 Monate entstanden nämlich 22,2 Millionen neue Stellen. Von ein paar marginalen monatlichen Schwankungen abgesehen ging die Arbeitslosenquote kontinuierlich zurück und fiel im Juli auf den tiefsten Stand seit 52 Jahren.
Vor diesem Hintergrund sollte die leichte Enttäuschung, die der Bericht vom August auslöste, eigentlich keinen Anlass zur Sorge darstellen. „Wir haben niedrige Arbeitslosigkeit, die Zahl der offenen Stellen hat einen Rekordstand erreicht, das sieht für mich alles nach einer starken Wirtschaft aus“ sagt der Nationalökonom und Nobelpreisträger Richard Thaler. Ähnlich scheint Notenbankchef Jerome Powell, der den Arbeitsmarkt höchstens am Rande erwähnt, die Dinge zu sehen. Anlässlich des wirtschaftspolitischen Symposiums in Jackson Hole sagte er kürzlich, dass die Erreichung des zweiprozentigen Inflationsziels der Fed nun deren „übergeordnetes Ziel sei“ und die Vergangenheit Beispiele dafür geliefert habe, dass „eine vorzeitige Lockerung der Geldpolitik gefährlich sein könnte“.
Duales Mandat der Fed
Für Powell, Thaler und viele andere scheint also klar zu sein: Wenn der Arbeitsmarkt in so starker Verfassung ist, dann sollte von einer Rezession selbst dann keine Rede sein, wenn das annualisierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den beiden abgelaufenen Quartalen um 0,9 und 1,6 % schrumpfte. Nach Ansicht des Nobelpreisträgers „ähnelt hier nichts einer Rezession“, und Spekulationen darüber findet er „amüsant“, sagte Thaler in einem Interview mit dem Fernsehsender CNBC.
Kaum anders Powell, der bei seinen Reden zwar einräumt, dass die Währungshüter die Eventualität eines Konjunktureinbruchs auf dem Radar haben. Seitdem die Arbeitslosenquote aber wieder das angestrebte Vorkrisenniveau von 3,5 % erreicht hat, das die Fed mit Vollbeschäftigung gleichsetzt, ist aus seiner Sicht die Hälfte des dualen Mandats erfüllt. Folglich könne sich die Notenbank voll der zweiten Komponente, nämlich der Geldwertstabilität, widmen.
Natürlich ist es auch möglich, dass die US-Notenbank mit ihrem Ausblick kräftig danebenliegt – es wäre nicht das erste Mal. Schließlich hatten Powell – ebenso übrigens wie Finanzministerin Janet Yellen – bis Ende November vergangenen Jahres an der Überzeugung festgehalten, dass die Inflation „vorübergehend“ sei. Doch die Teuerungsrate zog weiter an und erreichte im Juni mit einer Jahresrate von 9,1 % den höchsten Stand seit über 40 Jahren.
Mit dem Kursschwenk Anfang des Jahres und nunmehr der Beibehaltung des verschärften geldpolitischen Kurses geht Powell nach Ansicht vieler Experten das Risiko ein, nach dem Inflationsrisiko nun die Rezessionsgefahr zu unterschätzen – oder diese bewusst in Kauf zu nehmen. Nach Ansicht von Stephen Roach, der früher als Volkswirt bei der Fed tätig war und heute an der Yale University lehrt, „wird es nämlich eines Wunders bedürfen“, um einen Konjunktureinbruch zu verhindern. „Wenn sich der Verzögerungseffekt der Geldpolitik bemerkbar macht, und das ist bis heute nicht geschehen, dann werden wir definitiv eine Rezession haben“, so der Nationalökonom.
Roach erinnert an die achtziger Jahre unter dem damaligen Fed-Vorsitzenden Paul Volcker. Volcker habe Konjunkturschwäche und eine Arbeitslosenquote von über 10 % geduldet, um die ausufernde Inflation in den Griff zu bekommen. Das werde heute nicht anders sein. Die Notenbank werde die Teuerung nämlich erst dann unter Kontrolle haben, „wenn der Leitzins eine restriktive Zone erreicht, und davon sind wir heute noch sehr weit entfernt“, so der Nationalökonom.
Neben den Arbeitsmarktdaten spielt auch die Wahrnehmung seitens der Verbraucher eine zentrale Rolle bei der Bewertung der Rezessionsgefahr. Immerhin macht der Privatkonsum in den USA fast 70 % des BIP aus, und wenn Verbraucher die Zukunftsaussichten negativ einschätzen und ihre Ausgaben drosseln, dann könnte sich das Abrutschen in eine Rezession sogar beschleunigen. Der Index der Verbraucherstimmung der University of Michigan scheint den sich ausbreitenden Pessimismus zu bestätigen. Dieser gab im August im Vorjahresvergleich um mehr als 17 % nach. Auch werden die künftigen Aussichten deutlich schlechter eingeschätzt als zuvor.
Unterdessen ist unklar, wie sich parallel zur Gesamtwirtschaft die Lage am Arbeitsmarkt weiterentwickeln wird. Laut Arbeitsministerium waren im Juli 11,2 Millionen Stellen unbesetzt. Das könnte sich aber in den kommenden Monaten ändern. Schließlich begeben sich immer mehr Personen im erwerbsfähigen Alter auf Jobsuche, das bestätigt auch der Anstieg der Partizipationsrate im August. Möglich ist auch, dass die Zahl der offenen Positionen wieder schrumpfen wird. Schließlich nehmen Firmen aus Angst vor einem Konjunktureinbruch immer häufiger Stellenangebote zurück. Davon weiß Matt Norton aus Washington zu berichten, der im Mai sein Informatikstudium abgeschlossen hatte. „Ich hatte ein festes Angebot von einer führenden Consultingfirma, bei der ich im September beginnen sollte“, so der 22-Jährige. „Vor ein paar Wochen erhielt ich dann die Nachricht, dass die Stelle gestrichen werden muss, angeblich wegen der allgemeinen Konjunkturlage.“
Viele schlecht bezahlte Jobs
Für die weitere konjunkturelle Entwicklung ist neben dem Stellenwachstum und der Arbeitslosenquote auch die qualitative Zusammensetzung der neu geschaffenen Jobs von Bedeutung. So bleibt einerseits die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften hoch. Allein in den vergangenen zwölf Monaten wurden mehr als 1 Million Fachdienstleister eingestellt.
Viele Arbeitsplätze konzentrieren sich aber auf schlecht bezahlte Positionen, beispielsweise im Einzelhandel, dem Gastgewerbe oder Gesundheitswesen, die zusammen für fast 200 000 Neueinstellungen pro Monat verantwortlich sind. Im Einzelhandel wird in der Regel nur der vom Kongress festgeschriebene Mindestlohn gezahlt, der auf Bundesebene bei 7,25 Dollar pro Stunde liegt. Folglich leben selbst viele Vollzeitkräfte, die mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten, häufig unterhalb der amtlichen Armutsgrenze. Im Gastgewerbe können Arbeitgeber den Mindestlohn sogar unterschreiten, da Trinkgelder den Bezügen angerechnet werden, und im Gesundheitswesen konzentrieren sich die Jobs auf ebenfalls schlecht bezahlte Bürokräfte und administrative Positionen.
Geringe Produktivität
Gemeinsam haben die drei Sektoren, dass die dort beschäftigten Personen aufgrund ihrer niedrigen Löhne nur einen geringen Beitrag zum Privatkonsum leisten, der bedeutendsten Komponente des BIP. Auch zeichnen sie sich durch vergleichsweise geringe Produktivität aus. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene gab die annualisierte Produktivität im zweiten Quartal um 4,1 % nach und liefert zugleich eine Erklärung dafür, warum der quantitativ boomende Arbeitsmarkt und die schrumpfende Wirtschaftsleistung keineswegs Widersprüche darstellen.
Indes sieht die Fed der weiteren Entwicklung am Arbeitsmarkt zuversichtlich entgegen. Wie aus der Dot-Plot-Grafik des Offenmarktausschusses (FOMC) nach dessen Sitzung im Juni hervorging, rechneten die Währungshüter vor drei Monaten damit, dass die Zielzone für den Leitzins bis Jahresende auf 3,25 bis 3,5 % steigen würde.
Diese Prognose wird bei der nächsten Sitzung in zwei Wochen aktualisiert werden und könnte ein weiteres Mal nach oben geschraubt werden. Schließlich verharrt die an den Verbraucherpreisen gemessene Inflationsrate, die im Juli von 9,1 auf 8,5 % nachgab, dennoch weiter auf einem hohen Niveau. Das bevorzugte Inflationsmaß der Notenbank, der PCE-Preisindex, wird erst Ende des Monats veröffentlicht. Vor der FOMC-Sitzung wird die Fed aber noch den Verbraucherpreisindex für August zu verdauen haben, der kommende Woche veröffentlicht wird. Liegt die Jahresrate erneut über 8 %, dann ist vorstellbar, dass Powell und Co. Signale für eine weitere Kursverschärfung geben werden, ob eine Rezession bevorsteht oder nicht.
Von Peter De Thier