Wenn Beschäftigung stärker besteuert wird
Im Blickfeld
Wenn Beschäftigung stärker besteuert wird
Labour hat sich dafür entschieden, die Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitgeber kräftig zu erhöhen. Gastronomie und Einzelhandel schlagen Alarm.
Von Andreas Hippin, London
Die britische Schatzkanzlerin Rachel Reeves hat bei ihrem Amtsantritt im Juli keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft zu unpopulären Entscheidungen gelassen. Die bei der Vorstellung ihres Haushalts Ende Oktober verkündete Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitgeber um 1,2 Prozentpunkte gehört dazu. Sie soll dem Fiskus 20 Mrd. Pfund jährlich bringen.
Labour hatte im Wahlkampf versprochen, die Beiträge zur National Insurance nicht anzutasten. Plötzlich hieß es, damit seien nur die Arbeitnehmerbeiträge gemeint gewesen. Durch die beschäftigungsintensiven Branchen wie Gastronomie und Einzelhandel ging ein Aufschrei. Kritik kam auch von unerwarteter Seite, etwa von Arztpraxen, ambulanten Pflegediensten und gemeinnützigen Organisationen, die für ihre Beschäftigten höhere Beiträge abführen müssen.
Kosten in Milliardenhöhe
Der Verband des Hotel- und Gaststättengewerbes UK Hospitality bezifferte die zusätzlichen Kosten durch die für die Branche von Labour verkündeten Schritte in einem offenen Brief an Reeves auf 3,4 Mrd. Pfund pro Jahr. Zu den Maßnahmen gehört auch die Anhebung des Mindestlohns um 6,7% auf 12,21 Pfund pro Stunde. Insgesamt würden die Vorhaben zu einem Kostenanstieg von 10% oder 2.500 Pfund pro Vollzeitbeschäftigtem führen. Große Einzelhändler wie die Supermarktbetreiber Tesco und J Sainsbury wandten sich ebenfalls an die Schatzkanzlerin. Sie rechnen mit einer Zusatzbelastung von 7 Mrd. Pfund jährlich.
Einzelhandel und Gastronomie kam in Großbritannien in der Vergangenheit eine wichtige Rolle dabei zu, Menschen eine neue Beschäftigung zu geben, die ihre bisherige Arbeit verloren hatten. Großer Arbeitskräftebedarf und niedrige Zugangsschwellen trugen dazu bei. Für viele junge Menschen ist das Einräumen von Supermarktregalen oder der Dienst am Tresen im Pub der Einstieg ins Arbeitsleben.
Stellenstreichungen „unvermeidlich“
Man habe nicht die Möglichkeit, die gestiegenen Kosten an die Kunden weiterzureichen, klagte UK Hospitality. Angesichts der höheren Lebenshaltungskosten sei deren Preiszahlungsbereitschaft bereits ausgeschöpft. Stattdessen müssten die Mitgliedsfirmen Investitionen auf den Prüfstand stellen, „in drastischem Umfang“ Stellen streichen und die Arbeitszeit von Mitarbeitern reduzieren.
„Das schiere Ausmaß der neuen Kosten und die Geschwindigkeit, mit der sie eintreten, erzeugen zusammengenommen eine Belastung, die Arbeitsplatzverluste unvermeidlich und höhere Preise zur Gewissheit machen wird“, heißt es im von mehr als 80 Einzelhandelschefs unterzeichneten Schreiben des British Retail Consortium an Reeves.
Versicherungspflichtgrenze gesenkt
Besonders nachteilig für die Betriebe ist, dass nicht nur die Beiträge erhöht wurden, sondern zugleich die Versicherungspflichtgrenze von 9.100 Pfund auf 5.000 Pfund gesenkt wurde. Arbeitgeber müssen deshalb für Bezieher niedriger Einkommen einen besonders starken Anstieg verkraften und dürften entsprechende Beschäftigungsmodelle auf den Prüfstand stellen.
Für Mitarbeiter mit einem Jahreseinkommen von 100.000 Pfund beläuft sich der Anstieg UK Hospitality zufolge auf vergleichsweise moderate 13,6%. Doch für Beschäftigte, die 25.000 Pfund verdienen, sind es 36,7%. Und für Mindestlohnempfänger in Teilzeitjobs sind es 74,5%. Das trifft in besonderem Maße alleinerziehende Eltern und ältere Menschen, die sich etwas dazuverdienen wollen, dafür aber flexible Arbeitszeiten benötigten.
Lediglich eine weitere Steuer
Dann sind die Menschen wenigstens sozialversichert, könnte man meinen. Seit der Amtsübernahme im Juli setzte sich Labour für größere Arbeitnehmerrechte ein. Doch die National Insurance ist keine Sozialversicherung im deutschen Sinne. Viele Briten glauben zwar, dass mit den Beiträgen das öffentliche Gesundheitswesen NHS (National Health Service) und die gesetzliche Rente finanziert werden. Doch es handelt sich lediglich um eine weitere Steuer, die in den Staatshaushalt einfließt.
Die staatliche Rente ist in Großbritannien eine Sozialleistung. Durch die Beitragszahlungen entsteht kein Anspruch. Allerdings müssen sie eine bestimmte Zahl von Jahren geleistet worden sein, um in den Genuss der Rente zu kommen. Nach einem Jahrzehnt hat man sich bereits eine Minirente erdient.
Geringverdiener stark betroffen
Die Denkfabrik Resolution Foundation bezeichnete die Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge als „Steuer für arbeitende Menschen“. Das Institute for Fiscal Studies geht davon aus, dass größere Unternehmen, die viele Geringverdiener beschäftigen, am stärksten betroffen sein werden.
Der Deutsche-Bank-Volkswirt Sanjay Raja hat sich damit beschäftigt, wie Firmen auf die höheren Beiträge reagieren werden. Aus seiner Sicht werden die Unternehmen rund 15% der dadurch gestiegenen Kosten absorbieren. Das werde sich in Form eines Rückgangs der Margen in der Realwirtschaft um 0,3 Prozentpunkte und um 0,5% niedrigeren Investitionen widerspiegeln. Rund 35% ihrer höheren Kosten werden die Firmen Raja zufolge an die Kunden weiterreichen.
Preiserhöhungen drohen
Allerdings könnten die Unternehmen geneigt sein, die Preise stärker zu erhöhen, um weniger absorbieren zu müssen. Das gelte insbesondere für diejenige, die stärker von der Erhöhung des Mindestlohns betroffen seien. Das könne die Inflation um 0,4% nach oben treiben.
Historisch betrachtet führe eine Erhöhung der Sozialabgaben um einen Prozentpunkt zu einem Rückgang der Beschäftigung zwischen 0,4 und 0,8 Prozentpunkten, heißt es in der Deutsche-Bank-Studie. Wenn man einmal von einem Wert an der unteren Grenze der genannten Spanne ausgehe, seien das etwas mehr als 100.000 Arbeitsplätze.
Niedrigeres Lohnwachstum
Was die Tarifabschlüsse angehe, habe das Lohnwachstum bereits nachgelassen. Raja geht davon aus, dass die Unternehmen die Bezüge ihrer Mitarbeiter um 0,5 Prozentpunkte weniger erhöhen werden als bislang angenommen. Vor diesem Hintergrund senkte er seine Schätzung für das Lohnwachstum im kommenden Jahr von 4,25% auf 3,75%.
Die Analystin Anna Barnfather von Panmure Liberum warf einen Blick auf die Auswirkungen der von Labour angekündigten Maßnahmen auf die von ihr beobachteten Unternehmen der Freizeitindustrie. Zu denen gehören neben Hotel-, Pub- und Restaurantketten auch der Bowlingbahn-Betreiber Hollywood Bowl und die Sportstudiokette The Gym Group. Nach ihrer Sicht liegen die Personalkosten der Firmen im Schnitt bei fast einem Drittel (32%) des Umsatzes.
JD Wetherspoon exponiert
Vielerorts wird nicht mehr am Tresen, sondern über eine App bestellt und bezahlt. Die Branche habe gelernt, die Auswirkungen höherer Lohnnebenkosten durch eine Kombination aus höheren Verkaufspreisen, niedrigeren Lohnsteigerungen für Festangestellte, besserer Arbeitszeitplanung, verstärkter Automatisierung und digitaler Transformation abzumildern, schreibt Barnfather in ihrer Studie.
Aus ihrer Sicht ist die Pubkette JD Wetherspoon wegen ihrer niedrigeren Marge und einem vergleichsweise hohen Personalkostenanteil besonders exponiert. Das Management erwartet wegen der Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zusätzliche Kosten von 60 Mill. Pfund pro Jahr. Das entspricht einer Pflichtveröffentlichung des Unternehmens zufolge einem Anstieg von 67%.
Kosteninflation nimmt Fahrt auf
Nach Vorlage des Haushalts der Schatzkanzlerin sei die Kosteninflation, die in den vergangenen beiden Jahren etwas nachgelassen habe, wieder wesentlich gestiegen, sagt Chairman Tim Martin. „Wir glauben, dass alle Firmen des Gastgewerbes deshalb Preiserhöhungen planen. Wir bei Wetherspoon werden alles tun, um so wettbewerbsfähig wie möglich zu sein.“
Wie bereits erwähnt, wirken sich die höheren Sozialversicherungsbeiträge auch anderenorts aus: Einer Umfrage von GPonline zufolge könnten 600 Arztpraxen deshalb schließen. Die Early Years Alliance geht davon aus, das 95% der Kindergärten ihre Gebühren erhöhen werden, um mit den höheren Kosten klarzukommen. Die Universität von Edinburgh ließ wissen, dass Stellen gestrichen werden, sollte es sich nicht vermeiden lassen.
Labour bezahlt einen hohen Preis für das Wahlversprechen, Einkommenssteuer, Sozialversicherungsbeiträge und Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Es nahm Reeves die Bewegungsfreiheit, die sie gebraucht hätte, um einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Zudem wachsen die Zweifel an ihrer Politik. Denn die unabhängigen Haushaltshüter des Office for Budget Responsibility gehen nicht davon aus, dass ihre Maßnahmen den erhofften Wachstumsschub bringen werden.