Wenn Treibhausgase essbar werden
Am 15. November 2022 war es so weit. An jenem Dienstag, an dem im ägyptischen Scharm El-Scheich Vertreter von rund 200 Staaten mal wieder in äußerst zähen Verhandlungen rund um die Abschlusserklärung der Weltklimakonferenz steckten, wurde irgendwo anders auf der Welt gerade der achtmilliardste Mensch geboren. Zumindest rein rechnerisch hatte sich die UN auf diesen Tag festgelegt, denn exakte Echtzeitdaten über Geburten und Todesfälle gibt es nicht. Beeindruckend ist die Zahl trotzdem: 8 000 000 000 Menschen.
Im Netz machten in den vergangenen Jahren regelmäßig Berechnungen die Runde, wie groß die benötigte Fläche wäre, würde sich die gesamte Menschheit in einem Experiment einmal eng beieinanderstellen. Je nach Annahme stellten Hobbymathematiker dabei fest, dass etwa die Fläche von Mallorca, dem Schweizer Kanton Luzern oder New York City schon ausreichen würde.
Wissenschaftlern bereiten solche Überlegungen allerdings Bauchschmerzen. Nicht etwa, weil die Berechnungsmethoden nicht stimmen, sondern weil die Aussagekraft solcher Gedankenspiele mindestens begrenzt ist. Denn natürlich stellt die aktuelle und absehbar weiter wachsende Bevölkerungszahl durch den Verbrauch von Ressourcen und die Produktion von Abfallstoffen eine zunehmende Herausforderung für den Planeten dar.
Hilfreicher sind da also Überlegungen, wie sich das eine möglichst sinnvoll mit dem anderen verbinden lässt. Zur Weiterverwertung von klimaschädlichen Treibhausgasen wie CO2 etwa gibt es mittlerweile zahlreiche innovative Ansätze − von der umweltfreundlichen Produktion von Kleidung, Kosmetik, über Baumaterialien und Flugzeugtreibstoffe bis hin zu Diamanten ist alles dabei. Der individuelle Bedarf der Menschen an den genannten Produkten dürfte wohl recht unterschiedlich sein.
Es gibt aber auch Dinge, auf die der Homo sapiens beim besten Willen nicht verzichten kann − beispielsweise die regelmäßige Zufuhr von wichtigen Nährstoffen wie Proteine. Doch auch hier arbeiten junge Unternehmen derzeit am Hochlauf von Technologien, die unter Nutzung von CO2 Abhilfe schaffen sollen.
Ein Beispiel ist das 2021 gegründete Start-up Arkeon mit Sitz in Wien, das ein eigentlich schon jahrtausendealtes Verfahren in der Lebensmittelherstellung in Zukunft technisch und kommerziell auf ein neues Level heben will. Die Rede ist von einer bestimmten Art der Fermentation, genauer gesagt der Gasfermentation, bei der extrem effiziente Mikroorganismen in der Produktion von Proteinen für den menschlichen Verzehr komplett ohne landwirtschaftliche Produkte wie zum Beispiel Zucker auskommen.
Stattdessen ernähren sie sich von CO2 und Wasserstoff. Archaeen heißen diese High-Performer unter den Mikroben, deren Fähigkeiten die drei Gründer von Arkeon in der vergangenen Dekade erforscht und daraus ihre Geschäftsidee abgeleitet haben. „Dabei handelt es sich um Organismen, die in extremen Habitaten wie heißen Quellen oder Unterwasservulkanen vorkommen, also dort, wo normalerweise kein Leben entstehen kann“, erklärt Gregor Tegl, CEO des Jungunternehmens, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Durch die Verwertung von CO2 können diese Mikroorganismen alle 20 Aminosäuren, also Grundbausteine von Proteinen wie zum Beispiel Glutamat herstellen, die wir für unsere Ernährung brauchen.“
Der Prozess findet, wie bei einer klassischen Fermentation, in einem Bioreaktor statt. Heraus kommt am Ende ein Pulver als Basis zur Weiterverarbeitung in Lebensmitteln wie Milch- oder Fleischalternativen. In der Zusammensetzung kann sich das Pulver je nach Hersteller aber unterscheiden. Das finnische Foodtech-Start-up Solar Foods etwa, das sich ebenfalls das Prinzip der Gasfermentation zunutze macht, verwendet teils andere Inhaltsstoffe und erzeugt damit ein Pulver, das nicht aus Aminosäuren, sondern aus den Mikroben selbst besteht.
In diesem Jahr soll bei der bereits 2017 gegründeten Solar Foods die kommerzielle Produktion beginnen und deren Pulver 2024 erstmals in Singapur auf den Markt kommen. Der Stadtstaat ist für seine regulatorische Offenheit gegenüber Lebensmittelinnovationen bekannt. Denn dessen eigene Produktionsmöglichkeiten sind wegen der geringen Fläche begrenzt.
Aus Sicht von Solar-Foods-Chef Pasi Vainikka dürften die EU, Großbritannien und die USA aber bald folgen. 76 Mill. Dollar haben die Finnen insgesamt von Investoren eingesammelt. Und auch andere Start-ups mit ähnlichen Geschäftsmodellen konnten Wagniskapitalgeber in den vergangenen Jahren von dem Prinzip der Gasfermentation überzeugen. Für das kalifornische Start-up Air Protein, das aus seinem Pulver direkt fertige Fleischersatz-Produkte herstellt, kamen Anfang 2021 in einer Series-A-Runde 32 Mill. Dollar zusammen − unter anderem von GV (ehemals Google Ventures), dem VC-Investitionsarm von Alphabet. Die britisch-niederländische Deep Branch, deren Proteinpulver aus CO2 für die Weiterverarbeitung zu Tierfutter vorgesehen ist, zog zusammengerechnet bereits gut 14 Mill. Dollar an Land. Das gesamte VC-Dealvolumen im Foodtech-Bereich ist in Europa denn auch im Jahr 2022 nicht zurückgegangen − trotz Zinsängsten und Konjunktursorgen. Laut Dealroom stieg das Volumen (mit Ausnahme der Bringdienst-Start-ups) von 3,1 Mrd. Dollar im Jahr 2021 leicht auf 3,2 Mrd. Dollar.
Arkeon hat sich seinerseits Ende Dezember in einer erweiterten Seed-Runde 4 Mill. Euro gesichert und ist damit auf eine Gesamtfinanzierung von mehr als 10 Mill. Euro gekommen. Zu den neuen Investoren zählen das israelische Chemieunternehmen Israel Chemicals, der Gründerfonds der österreichischen Förderbank AWS, die Schweizer VC-Gesellschaft Hackcapital und der Berliner Foodtech-Investor Tet Ventures.
„Mit dem Geld wollen wir unsere Kapazitäten ausbauen“, sagt Tegl. „Wir produzieren momentan noch sehr geringe Mengen, befinden uns jetzt aber in der Skalierung. Im nächsten Jahr wollen wir in einem 3000-Liter-Reaktor operieren, der es uns erlaubt, ca. 1,5 Tonnen pro Jahr zu produzieren. 2025 bis wird dann der kommerzielle Ausbau mit einer finalen Reaktorgröße von ca. 800 000 Litern angestrebt“, so der 33-Jährige.
Bis zu 15 Mill. Euro könne ein Reaktor in der Größe schon mal kosten. „Das sind riesige Tanks, die vier bis fünf Stockwerke hoch sind“, sagt Tegl. Die Pilotanlage soll in Wien gebaut werden, wobei man sich aber nicht auf Österreich versteifen will.
„Wir brauchen eine gewisse Infrastruktur – da geht es um Energie, um CO2, aber auch um Wasserstoff, den wir für den Prozess brauchen. Dazu gibt es in verschiedenen Ländern verschiedene Konzepte, die mal mehr und mal weniger progressiv sind und die wir uns gerade anschauen.“
Das CO2 bezieht Arkeon momentan von Brauereien und Bioethanolanlagen. Man sei generell zwar flexibel, was die Herkunft des Kohlendioxids angeht, fokussiere sich aber dennoch auf CO2, das bereits am Boden gespeichert wird und gar nicht erst in die Atmosphäre gelangt.
Der Preis sei dabei ein untergeordnetes Thema. „Zwar gab es aus geopolitischen Gründen zuletzt Schwankungen, aber letztlich pendelt sich der Preis immer bei um die 90 Euro pro Tonne CO2 ein“, sagt Tegl. Das trage nur sehr wenig zu den Gesamtkosten bei, und im Rahmen von bestimmten Kooperationen erhalte Arkeon das Kohlendioxid sogar gratis. Auch was die Entwicklung der Kosten für die Wasserstofferzeugung angeht, macht sich der Biotechnologe wenig Sorgen. „Wasserstoff wird billiger werden. Wir haben mit Industrieexpertinnen und -experten zahlreiche Gespräche geführt und sehen, dass der Preis kurz- und mittelfristig bei 2 bis 4 Euro pro Kilogramm landen wird.“ Momentan wird das Kilo in Deutschland noch für knapp 14 Euro gehandelt.
Die Entwicklung geht unmittelbar mit der Frage einher, die Verbraucher auch im Zusammenhang mit der Energiewende im Verkehrssektor beschäftigt: Wann kommt es zur Preisparität? Der Chef des schwedischen Autobauers Volvo geht beispielsweise davon aus, dass Elektroautos schon im Jahr 2025 vergleichbar viel kosten werden wie Verbrennerfahrzeuge. Doch so wie die Preisgestaltung im Pkw-Markt stark vom Modelltyp abhängt, so gibt es auch im Markt für Aminosäuren extreme Preisunterschiede. „Die billigsten Aminosäuren kosten 1 bis 2 Euro pro Kilogramm, die teuersten kosten bis zu 130 Euro“, erklärt Tegl. „Sobald wir vollständig skaliert sind, werden wir um ca. 4 bis 5 Euro pro Kilogramm produzieren können. Damit können wir künftig also zu einer Angleichung des Preisniveaus am Aminosäurenmarkt beitragen.“
Letztendlich hänge die Preisentwicklung aber nicht nur von der berühmten unsichtbaren Hand ab. „Auch im Steuerwesen wird es eine Angleichung geben“, sagt Tegl. „Der Grund, warum wir uns überhaupt mit der Frage der Preisparität beschäftigen müssen, ist, weil wir gerade noch doppelt so viele Steuern auf die New-Food-Produkte zahlen wie auf konventionelle Produkte der Fleisch- und Milchindustrie. Wenn heute schon Parität in der Besteuerung von proteinogenen Inhaltsstoffen geschaffen würde, dann wären wir heute preislich bereits wettbewerbsfähig.“