Westeuropa rüstet auf, ist aber von einer Kriegswirtschaft meilenweit entfernt
Westeuropa rüstet auf, ist aber von Kriegswirtschaft meilenweit entfernt
Trotz „Zeitenwende“-Rhetorik nach Russlands Überfall auf die Ukraine steuert die Wirtschaft Deutschlands nicht auf einen Ausnahmezustand zu.
Von Stefan Kroneck, München
Beim Thema Krieg unterliegen auch Wirtschaftsforscher der Gefahr, mit ihren Resultaten für Irritation zu sorgen. Die Weltbank hat einen Bock geschossen. Zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stellte sie jüngst fest, dass das Pro-Kopf-Einkommen in beiden Ländern gestiegen ist. Trotz Sanktionen des Westens läuft die russische Wirtschaft heiß. Nach dem Beginn der Invasion vor zweieinhalb Jahren, als seinerzeit die Konjunktur in der Ukraine einbrach, konnte sich sogar die Wirtschaft des angegriffenen Landes gemäß Weltbank-Lesart etwas erholen.
Logik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
Für Statistiker mag das ein nüchternes Zahlenwerk sein, für die vom Krieg betroffene breite Bevölkerung klingt das aber wie Hohn. Überspitzt formuliert kann man die Erkenntnis der Weltbank dahingehend (fehl)interpretieren, dass sich ein Krieg wirtschaftlich lohnt, da dieser den Wohlstand mehrt. Für Populisten, Autokraten und Despoten jedweder Art kann das ungewollt Argumente liefern für eine aggressive, auf Expansion ausgerichtete Außenpolitik zulasten anderer.
In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist es mathematisch logisch, wenn der Staat mit deutlich wachsenden Militärausgaben aufgrund eines unter Einsatz konventioneller Waffen geführten Krieges für einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sorgt. Die damit einhergehenden drastisch gestiegenen Aktivitäten eines Staates auf diesem Feld überkompensieren die schrumpfende Konsumgüterproduktion.
Schwelle von 15 Prozent des BIP
Doch was ist eine Kriegswirtschaft genau? In der Volkswirtschaftslehre gibt es dafür keine einheitliche Definition, weil der Krieg in den Wirtschaftswissenschaften zu Recht als Ausnahmefall gilt. Die gängigen makroökonomischen Theorien beziehen sich auf Friedenszeiten. In der Volkswirtschaftslehre gehört an den Universitäten der Krieg nicht zum Lehrstoff, auch in der Forschung wird er stiefmütterlich behandelt.
In den Politikwissenschaften hat sich als gängiger Indikator der Anteil der Militärausgaben am BIP eines Landes, welches sich unmittelbar oder mittelbar im Kriegszustand befindet, durchgesetzt, obgleich es sinnvoll wäre, als Messgröße auch den Staatshaushalt heranzuziehen. Als Schwelle, ab der man in der Regel von einer Kriegswirtschaft spricht, gilt ein Anteil der Rüstung von 15 bis 20% am BIP. Der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Forner gibt als Grenze, ab der eine Friedens- zu einer Kriegswirtschaft mutiert, eine große Spanne zwischen 15 und 30% an. Zum Vergleich: Im Zweiten Weltkrieg schwoll der Anteil im Deutschen Reich, den USA und in der Sowjetunion auf bis zur Hälfte des BIP an.
Wirtschaft im Ausnahmezustand
Eine Kriegsökonomie ist eine Wirtschaftsordnung im Ausnahmezustand, bei der die Produktion von Rüstungsgütern zur Kriegsführung durch staatlich zentralisierte Lenkung deutlichen Vorrang hat vor den privaten Konsumgütern. Das heißt, die gesamte Volkswirtschaft ordnet sich dem unter. Das schließt alle Produktionsfaktoren wie Arbeitskraft und Kapital sowie die Geldpolitik mit ein. Notenbanken dienen als Finanzierer des Staates zur Kriegsführung. Die Finanzpolitik dominiert die Geldpolitik. Zentralbanken werden zur Notenpresse degradiert. Die Staatsschulden wachsen. Den damit einhergehenden Inflationsdruck versucht der Staat durch Regulierung der Löhne und Preise zu begrenzen.
Wendet man die BIP-basierte Definition in der Gegenwart an, so trifft der Begriff Kriegswirtschaft im internationalen Vergleich nur auf die Ukraine zu. Im vergangenen Jahr machten Militärausgaben 37% des BIP des überfallenen Landes aus, dessen Territorium zu einem Fünftel von Russland besetzt ist. Damit befindet sich die Ukraine fast an der Obergrenze. Kiew hat das Potenzial des Landes für den Krieg nahezu ausgeschöpft. Waffenlieferungen der Nato sorgen dafür, dass die Ukraine bisher gegen den viel größeren Aggressor standhält. Im Vergleich dazu befindet sich Russland trotz einer steigenden Rüstungsproduktion noch nicht im Zustand einer Kriegsökonomie, wenn man den öffentlich zugänglichen Daten Glauben schenkt. Dem Datendienstleister Statista zufolge lag die Militärquote am BIP 2023 bei nahezu 6%. Experten gehen mittlerweile von 8 bis 9% aus.
Kreml steuert auf Kriegswirtschaft zu
Der Kreml steuert auf den Ausnahmezustand zu, je länger der Krieg dauert. Das zeigt, dass Großmächte aufgrund ihrer ohnehin hohen Militärausgaben über das Potenzial verfügen, über weite Strecken Kriege zu führen ohne Kriegsökonomie. Zur Erinnerung: Während der Kriege in Vietnam (1964 bis 1973) und im Irak (Zweiter Golfkrieg 1990 bis 1991) stieg der Militäranteil am BIP in den USA zeitweise auf bis zu 10%. Derzeit beträgt dieser Anteil zwischen 3 und 4%.
Angesichts der Bedrohungslage in Osteuropa schwenkt die Nato um. Im Militärbündnis steigen die Verteidigungsausgaben auf breiter Front. Aktien von Rüstungsunternehmen sind an der Börse in diesen Zeiten sehr gefragt. Von einer Kriegswirtschaft kann jedoch in Westeuropa keine Rede sein. Davon sind die beiden Atommächte Frankreich und Großbritannien, deren Militärausgaben etwas über der von den USA geforderten Mindestschwelle von 2% liegen, weit entfernt.
Trotz der „Zeitenwende“-Rhetorik von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 liegt Deutschland immer noch weit unterhalb dieser Quote. Im vergangenen Jahr waren es 1,5% – ohne das von Scholz angekündigte Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Mrd. Euro.
Deutschland unter 2-Prozent-Ziel
Auf Basis des Entwurfs für den Bundeshaushalt 2025, der für die Verteidigung 53 Mrd. Euro vorsieht, sinkt diese sogar auf 1,3%. Das zeigt, Deutschland ist von einer Kriegswirtschaft meilenweit entfernt. Das hat einen simplen Grund: Die Nato ist nicht Kriegspartei. Behauptungen mancher, die größte EU-Volkswirtschaft befinde sich wegen der Drohgebärden aus Moskau auf dem Weg zu einer Kriegsökonomie, gehen an der Realität vorbei. Dazu ein Rechenbeispiel: Sollte Berlin 15% des BIP fürs Militär aufwenden, käme auf Basis des Bruttonationalprodukts von 4,1 Bill. Euro (2023) eine gigantische Summe von über 600 Mrd. Euro zusammen – eine utopische Größe. Das entspräche mehr als zwei Drittel der US-Verteidigungsausgaben, dem mit weitem Abstand größten Militärbudget der Welt.