Hoffnung auf ein besseres Börsenjahr
Von Werner Rüppel, Frankfurt
Das laufende Jahr ist ein Annus horribilis, ein fürchterliches Jahr, das mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine zu einem Krieg in Europa führte. Dieser Überfall hat enorme Folgen und führte zu einer Zeitwende, für das Gemeinwesen, für die Wirtschaft und auch für die Kapitalmärkte. Nicht zuletzt sind die Energiepreise und die Inflation in den USA und Europa dramatisch gestiegen und haben zweistellige Raten erreicht. Vor diesem Hintergrund mussten die Notenbanken ihre Leitzinsen deutlich anheben. Der Ukraine-Krieg und die unerwartete deutliche Zinswende haben zumindest bis Ende September zu massiven Verlusten sowohl auf der Renten- als auch auf der Aktienseite geführt.
Der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen haben praktisch alle Kapitalmarktstrategen überrascht. Dies wird bei der Lektüre der Prognosen für 2022 deutlich. Eine etwas höhere Inflation war zwar schon zur vergangenen Jahreswende ein Thema und wurde durchaus als Gefahr gesehen. Aber Krieg und zweistellige Inflationsraten eben nicht. Vielmehr gingen die Strategen davon aus, dass das Niedrigzinsumfeld anhalten wird und die Aktienkurse nach einer zunehmenden Überwindung der Pandemie erneut auf Hochs klettern sollten. Dies hat sich übrigens zunächst auch bewahrheitet, so hat der Dax zu Beginn dieses Jahres ein Rekordhoch von mehr als 16000 Punkten erreicht. Doch dann kam der 24. Februar und das Szenario veränderte sich vollkommen.
Nach Korrekturen oft besser
Nach den deutlichen Kursverlusten im laufenden Jahr herrscht bei den Volkswirten und Strategen inzwischen doch einige Zuversicht für 2023. Dafür gibt es auch gute Gründe, sind doch die Bewertungen insbesondere für Unternehmensanleihen und für Value-Aktien deutlich gesunken. Und in Anbetracht bereits deutlicher Zinsstraffungen der Notenbanken, einer sich abschwächenden Konjunkturentwicklung und der Erwartungen rückläufiger Inflationsraten gehen die Analysten durchweg davon aus, dass die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank (EZB) wahrscheinlich bereits in der ersten Jahreshälfte 2023 aufhören werden, die Leitzinsen weiter zu erhöhen.
„Die gute Nachricht ist: In der Vergangenheit folgte nach Korrekturen von mehr als 10% für Aktien und Anleihen im Folgejahr stets ein sattes Plus“, sagt Michael Schoenhaut, Portfoliomanager bei J.P. Morgan Asset Management. „Die Neubewertungen bieten insbesondere für ertragsorientierte Anleger sowohl auf der Aktien- als auch Anleiheseite eine gute Einstiegs- oder Nachkaufmöglichkeit.“ Die Deka prognostiziert ein besseres Jahr 2023. „Für Anleger weitet sich das Anlageuniversum wieder deutlich aus“, sagt Joachim Schallmayer, Kapitalmarktstratege der DekaBank. Neben Aktien seien auch Anleihen wieder deutlich attraktiver geworden, und so sei der Wettbewerb zwischen Dividenden und Zinsen wieder neu entfacht. „Die Zeit arbeitet für Risikoanlagen“, unterstreicht Frank Engels, der im Vorstand von Union Investment das Portfoliomanagement für Wertpapiere verantwortet. „Der Jahresstart bleibt schwierig, aber im weiteren Verlauf wird 2023 ein besseres Jahr für chancenorientierte Anlagen werden.“ Die größten Chancen sieht Engels am Rentenmarkt und betont: „Wir halten Investment-Grade-Unternehmenstitel für attraktiv, da sie ausreichend Puffer gegen sich verschlechternde Fundamentaldaten bieten.“
Mit Engels stimmt Björn Jesch, Global Chief Investment Officer (CIO) der DWS, überein: „Zinsanlagen sind wieder im Spiel – als Renditebringer und als Diversifikationsinstrument. Besonders aussichtsreich: Euro-Investment-Grade-Unternehmensanleihen. Bei Aktienanlagen sehen wir für 2023 nur begrenztes Renditepotenzial, das aber hoch genug sein sollte, die Inflationsraten auszugleichen.“ Auch Bert Flossbach, Fondsmanager und Gründer von Flossbach von Storch, erkennt Chancen auf der Anleiheseite: „Bei Anleihen gibt es erstmals seit Jahren vereinzelt wieder attraktive Renditen, die ausreichen, um auch bei höherer Inflation als in der Vergangenheit einen positiven Realzins zu bieten.“ Recht zuversichtlich für das kommende Jahr äußert sich auch der erfahrene Börsianer Ulrich Kaffarnik, Vorstand bei DJE Kapital. Er glaubt, dass die Konsenserwartung einer Rezession in den USA nicht eintritt, und erklärt: „Gleichzeitig dürfte sich die Lage bei der Inflation, vor allem aufgrund von Basiseffekten bei Energie, entspannen. Somit sind die Voraussetzungen für ein im Verlauf positives Kapitalmarktjahr 2023 gar nicht schlecht.“
Tiefgreifende Veränderung
Das zu Ende gehende Jahr 2022 zeigt aber auch, dass an den Kapitalmärkten eine gewisse Demut angesagt ist. Denn Ereignisse wie den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine vermag niemand zu prognostizieren. So werden die geopolitischen Spannungen nach Meinung der DWS anhalten. „Die Welt wird eine andere sein als in den vergangenen fünf Jahren“, so Global CIO Jesch. Der größte geopolitische Risikofaktor sei derzeit Russland. Denn die Wirtschaft der Eurozone leide besonders stark unter den Folgen des russischen Angriffskrieges.
Für Anleger ist die Situation schwer zu fassen, und die Risiken bleiben hoch. „Angesichts der komplexen Gemengelage ist eine intelligente Diversifikation mit hohem Anteil an Sachwerten die beste Strategie, um langfristig Risiken zu begrenzen und Chancen zu wahren“, sagt Flossbach. „Ob die Talfahrt an den Börsen vorüber ist, vermag aber niemand zu sagen.“
Vor allem durch den dramatischen Anstieg der Inflationsrate hat für die Märkte ein neues Regime eingesetzt. Die Zeiten, in denen die Notenbanken die Märkte mit extrem niedrigen Zinsen und reichlich Liquidität fluten, sind vorbei. Entsprechend sind auch die Zeiten vorbei, in denen die durch die „Götter der Märkte“ hervorgerufene Liquiditätsflut zu extrem hohen und langfristig wohl völlig überzogenen Bewertungen bei Aktien, Anleihen und Immobilien geführt hat. Es zählen jetzt wieder Bewertungsniveaus, die Höhe von Renditespreads am Anleihemarkt und nicht zuletzt die Qualität von Unternehmen. Der jahrelange undifferenzierte „Risk on“-Modus hat 2022 Schiffbruch erlitten.
„Die Fragen, in welchem Umfang und wie schnell die Inflation zurückgedrängt werden kann und wie stark die Zentralbanken die Zinsen dafür noch anheben müssen, werden im kommenden Jahr für die Kapitalmärkte das beherrschende Thema sein“, sagt Jesch. Die DWS erwartet, dass die Inflationsraten 2023 zurückgehen, aber mit 6,0% in der Eurozone und 4,1% in den USA noch auf hohem Niveau bleiben. Ein ähnliches Bild prognostiziert Union Investment, die von einer Teuerung um 4,1% in den USA und von 6,4% im Euroraum und in Deutschland ausgeht.
„Den Notenbanken wird die sinkende Inflation die Arbeit erleichtern“, sagt Engels. So erwartet er für die EZB nur noch Zinsanhebungen im ersten Quartal 2023, danach stehe der Abbau der Notenbankbilanz auf der Tagesordnung. Die Fed werde 2023 vielleicht noch einmal an der Zinsschraube drehen, aber nicht häufiger. Auch die DWS prognostiziert, dass im Frühjahr 2023 mit Zinsanhebungen der großen Notenbanken Schluss sein wird, und geht von einem Anstieg des EZB-Einlagesatzes auf 3,0% und der Fed Funds Rate bis auf 5,0 bis 5,25% aus.
Risiken bestehen fort
Nachdem die Notenbanken und insbesondere die EZB mit ihren Inflationsprognosen versagt haben, sind sie jetzt entschlossen, die tatsächliche Teuerung zu bekämpfen. Dies kann durchaus dazu führen, dass die Währungshüter ihre Geldpolitik länger als erwartet straffen, wenn die Verbraucherpreise hoch bleiben. Dies stellt im kommenden Jahr durchaus ein Risiko für die Anleihen- und Aktienmärkte dar.
Doch welche Assetklassen sind nun in Zeiten von Zinsstraffungen und sich abschwächendem Wirtschaftswachstum attraktiv und welche sind es nicht?
Als wenig attraktiv gelten zehnjährige Bundesanleihen, deren Rendite aktuell bei 1,85% pro Jahr liegt. Laut Société Générale werden sich Bunds von US-Treasuries abkoppeln und die Rendite zehnjähriger deutscher Papiere werde im ersten Quartal 2023 bis auf 2,50% und darüber hinaus steigen.
Als attraktiv gelten hingegen Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating. „Man kann jetzt wieder in Unternehmensanleihen investieren“, betont Martin Wagenknecht, Head of Debt Capital Markets (DCM) für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei der Société Générale. Denn die Spreads für Euro-denominierte Anleihen mit Investment-Grade-Rating lägen inzwischen über dem Durchschnitt der vergangenen zwei Dekaden und auch höher als die Dividendenrendite der im Stoxx 600 vertretenen Aktien. Wagenknecht betont: „Wir glauben, dass derzeit die Renditen attraktiv sind.“
Und auf der Aktienseite sind die Bewertungen teilweise wieder klar zurückgekommen, so dass die Strategen und Analysten hier Gelegenheiten, insbesondere bei Qualitätswerten, ausmachen. Auch nach Meinung von Ralf Darpe, Head of Equity Capital Markets (ECM) für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei der Société Générale, haben sich die Bewertungen von Aktien normalisiert. „Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 12,1 im Stoxx 600 sind wir im Langfristvergleich sehr niedrig unterwegs“, erläutert Darpe. Unterdessen falle die Dividendenrendite mit im Schnitt 3,5% üppig aus. Für den Dax prognostiziert die Société Générale zwar nur einen moderaten Anstieg auf 15000 Punkte Ende 2023, aber eine weitere Aufwärtsbewegung auf 16000 und 17000 Punkte Ende 2024 und 2025.
Dividenden attraktiver
Nicht zuletzt werden Dividenden durch die Kurskorrektur im laufenden Jahr, aber auch durch nach wie vor üppige Ausschüttungen zunehmend attraktiver. So dürfte der Dax 2023 einen Ausschüttungsrekord erreichen, und Dividendenaristokraten wie die Allianz, die Deutsche Post oder die Münchener Rück bieten üppige Ausschüttungsrenditen.
Die Bewertungsblase bei Aktien ist geplatzt, während die Profitabilität der Unternehmen immer noch hoch ist, sagt Marcus Poppe, Portfolio Manager Equities bei der DWS. Es sei wieder Zeit für Value, und dabei gebe es auch Gelegenheiten. So habe sich der Bewertungsabschlag von europäischen Aktien gegenüber US-Titeln auf ein Rekordniveau ausgeweitet. Daher empfiehlt die DWS, europäische Aktien taktisch überzugewichten.
Es gibt also wieder Gelegenheiten. Und die Hoffnung, dass 2023 ein besseres Jahr wird als das abgelaufene – auch an den Kapitalmärkten.