Der Energiemarkt läuft heiß
Von Alex Wehnert
Mitten in der Corona-Pandemie ist eine neue Krise entstanden, die für Verbraucher deutlich spürbar wird. So zum Beispiel an der Zapfsäule: Im bundesweiten Tagesdurchschnitt lag der Preis für einen Liter E10 zuletzt knapp unter dem im September 2012 erreichten Rekordniveau, Diesel ist bereits so teuer wie nie. Auch Post vom Energieversorger bringt in diesen Tagen wenig Freude: Auf Bestandskunden kommen in vielen Fällen Preiserhöhungen bei Strom und Gas zu – darauf mit einem Anbieterwechsel zu reagieren, wird allerdings schwieriger. Denn Versorger wie Eon und Mitgas stoppen ihr Neugeschäft mit Gaskunden, kleinere Unternehmen senden gar Vertragskündigungen aus.
Dies sind die offensichtlichsten Symptome einer Unterversorgung bei Energierohstoffen, in deren Folge auch der Terminmarkt heißgelaufen ist. Der Erdgaspreis am niederländischen Knotenpunkt TTF markierte Anfang Oktober ein Allzeithoch von 150 Euro je Megawattstunde, und auch die Preise für die führende Rohölsorte Brent Crude sowie US-Leichtöl der Sorte West Texas Intermediate (WTI) erreichten zeitweise die höchsten Niveaus seit drei beziehungsweise sogar sieben Jahren. Die billionenschweren Corona-Konjunkturprogramme haben zwar die Erholung der globalen Wirtschaft von den Pandemiefolgen angetrieben, allerdings auch für eine enorme Nachfrage nach Energie gesorgt, die auf ein knappes Angebot trifft.
Für Anleger bietet die Entwicklung durchaus Chancen. Eine Möglichkeit zur Partizipation stellen Investitionen in Aktien von Öl- und Gaskonzernen dar. Die Marktstimmung, zumindest in Bezug auf die größten Vertreter der Branche, nimmt sich jedenfalls positiv aus. Laut dem Informationsdienstleister Bloomberg raten beispielsweise 18 von 22 Analysten, die Royal Dutch Shell regelmäßig beobachten, zum Kauf der Aktie – Verkaufsempfehlungen finden sich in der Datenbank nicht. Beim russischen Erdgaskonzern Gazprom lautet das Verhältnis 13 zu null, beim französischen Mineralölunternehmen Total Energies stehen 20 Kaufempfehlungen sieben „Halten“-Vota gegenüber – nur ein Analyst rät dazu, sich von dem Titel zu trennen. Gedämpfter ist die Stimmung für den US-Marktführer ExxonMobil, doch auch dessen Aktie setzen deutlich mehr Marktexperten auf „Buy“ als auf „Sell“.
Risiken durch Umweltskandale
Sich einzelne Öl- und Gasförderer ins Portfolio zu holen, birgt allerdings Risiken. Denn wenn ein solcher Konzern in einen Umweltskandal verstrickt wird, kann dies den Aktienkurs erheblich unter Druck setzen. Dies hat sich exemplarisch am Beispiel von BP nach der Explosion der Bohrplattform Deepwater Horizon im Jahr 2010 gezeigt, in deren Folge geschätzte 800 Mill. Liter in den Golf von Mexiko gelangten. Für den Konzern zog dies gewaltige Schadenersatzzahlungen nach sich. Am Vorabend der Katastrophe, die sich am 20. April 2010 ereignete, hatte die BP-Aktie in London auf 6,55 Pfund geschlossen – bis Ende Juni rutschte der Kurs auf 3 Pfund ab.
Wer aufgrund solcher Beispiele einen diversifizierteren Ansatz sucht, kann auf eine der Fondslösungen in diesem Bereich setzen. Grundsätzlich sind dabei Vehikel, die in Rohstoffkonzerne investieren, von solchen zu unterscheiden, die über Investitionen in Terminkontrakte eine direktere Exposition gegenüber Rohstoffen suchen. Der Lyxor Commodities Refinitiv/Core Commodity CRB, der zu den stärksten Performern unter den Exchange Traded Funds (ETFs) im Segment gehört, bildet beispielsweise den CRB-Index nach. Dieser umfasst 19 verschiedene Futures, die an Warenterminbörsen wie der New York Mercantile Exchange gehandelt werden.
Rollen verursacht Kosten
Eine gezielte Investition ausschließlich in Erdöl oder Erdgas ermöglicht der ETF allerdings nicht, auch wenn Energierohstoff-Kontrakte ein hohes Gewicht im Index einnehmen. Denn daneben sind auch Futures auf Metalle sowie auf Agrarrohstoffe und sogar Lebendvieh darin enthalten. Bei einzelnen Futures aktiv zu werden, ist für Retail-Investoren allerdings kaum ein gangbarer Weg, da das monatliche Rollen der Terminkontrakte enorm aufwendig und kostenintensiv ist.
Allerdings hat ein Produkt an Popularität gewonnen, das bei diesem Problem Abhilfe schafft: die Exchange Traded Commodity (ETC). Laut Kemal Bagci, Derivate-Spezialist bei der BNP Paribas, können solche börsengehandelten Inhaberschuldverschreibungen die Entwicklung einzelner Assets vollständig und ohne Tracking-Fehler replizieren – dies könne in einem ETF aufgrund der regulatorischen Anforderungen an Mindestdiversifikation nicht dargestellt werden. „Exchange Traded Commodities sind vollständig besichert und schützen Anleger somit gegen die Insolvenz eines Emittenten“, sagt Bagci.
Eine Brent-ETC des französischen Geldhauses hat auf Jahressicht um über 100 % zugelegt. Ein gemessen am verwalteten Vermögen wesentlich kleineres Vehikel auf den Erdgaspreis am britischen Knotenpunkt Henry Hub hat seinen Wert indes um mehr als drei Viertel gesteigert. ETCs erhalten laut Bagci zunehmend Zulauf von Privatanlegern. Seit dem vergangenen Jahr liege der Retail-Anteil der verwalteten Gelder bei den BNP-Rohstoffvehikeln bei ungefähr 50 %. Über alle Investorengruppen hinweg seien ETCs auf Brent sowie WTI unter den Rohstoffprodukten am beliebtesten. Auch Vehikel auf einen Energiepreisindex, der die Preisentwicklung bei Rohöl, Erdgas, Benzin, Heizöl und Diesel einbeziehe, erführen reges Interesse.
„Wir haben bei unseren Produkten Wert darauf gelegt, dass die Besicherung vollständig in Deutschland erfolgt. Die Deutsche-Börse-Tochter Clearstream agiert dabei als Treuhänder und verwahrt auch die Sicherheiten“, führt Bagci aus. Die hinterlegten Sicherheiten würden von der Deutschen Börse vorgegeben, im Fall der ETCs von BNP Paribas handle es sich um Large-Cap-Aktien aus europäischen Indizes. Diese Regelung ergebe Sinn, da der Unternehmensanleihemarkt zum Beispiel in der Finanzkrise 2008 schnell ausgetrocknet sei, während der Aktienmarkt noch ausreichend Liquidität aufgewiesen habe.
Langfristige Volatilität
Die BNP Paribas ist vergleichsweise spät in den ETC-Markt eingestiegen. Bei Produkten von Anbietern, die wie der Assetmanager WisdomTree schon länger im Segment aktiv sind, zeigen sich auf Sicht mehrerer Jahre deutliche Schwankungen. Die Volatilität gründet sich auch darauf, dass die Preise von Energierohstoffen stark von politischen Entwicklungen abhängig sind. So fielen die Rohölnotierungen zuletzt von ihren Mehrjahreshochs zurück, nachdem die Debatte um die Freigabe strategischer Ölreserven an Dynamik gewonnen hatte.
Die USA versuchten auch andere wichtige Verbrauchsländer wie Japan, Südkorea oder Indien zu einem solchen Schritt bewegen, diese zapften ihre Bestände aber in geringerem Umfang an als erwartet. Die Freigabe strategischer Ölreserven ergebe unterdessen nur Sinn, um eine kurzfristige Unterversorgung zu überbrücken, wie Carsten Fritsch, Rohstoffanalyst bei der Commerzbank, zu bedenken gibt. Ryan McGrail, Senior Credit Research Analyst beim zu Natixis Investment Managers gehörenden Vermögensverwalter Loomis Sayles, hält eine Freigabe staatlicher Ölreserven sogar für kontraproduktiv. Denn die Ölpreisrally sei weniger auf die aktuelle Knappheit zurückzuführen, sondern auf die Furcht vor einer künftigen Unterversorgung. Marktteilnehmer dürften den zusätzlichen Input daher nicht als Erleichterung verstanden haben, sondern im Gegenteil als Zeichen, dass die Situation kritischer sei als erwartet.
Dass US-Präsident Joe Biden das Ölkartell Opec dazu aufrufe, die Förderung anzukurbeln, sei ebenfalls wenig hilfreich. Denn das führende Mitglied Saudi-Arabien sei nicht geneigt, den USA Gefallen zu tun. „Die Trump-Regierung pflegte sehr gute Beziehungen zu Riad, Biden jedoch distanziert sich vom Königreich“, führt McGrail aus. So entzog er der saudischen Offensive im Jemen die Unterstützung und machte Kronprinz Mohammed Bin Salman für den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi mitverantwortlich. Auch dass Washington Verhandlungen über eine Wiederaufnahme des Atomabkommens mit dem Iran – Riad streitet mit Teheran um die Vorherrschaft am Persischen Golf – aufgenommen habe, sei Saudi-Arabien ein Dorn im Auge. „In einem dieser Punkte wird Biden Saudi-Arabien entgegenkommen müssen, um eine höhere Opec-Produktion zu erreichen“, sagt McGrail.
Zugleich bestehe für das Ölkartell keine Notwendigkeit, die Förderung auszuweiten, um Marktanteile zu verteidigen. Denn die US-Produktion steige kaum nennenswert. „Dies stellt einen entscheidenden Unterschied zur Situation in den Jahren 2014 und 2020 dar, als die Opec die Förderung ankurbelte, um ihre Stellung im Markt nicht zu gefährden“, unterstreicht McGrail. Saudi-Arabien und andere große Mitglieder der Allianz dürften in der derzeitigen Situation an hohen Preisniveaus interessiert sein, da sich diese positiv auf ihre Staatshaushalte auswirkten.
Langfristig wird die Marktmacht der um Verbündete wie Russland erweiterten Opec plus nach Ansicht von Commerzbank-Analyst Fritsch noch zunehmen, da sich die Produktion außerhalb des Kartells infolge des Nachhaltigkeitstrends wohl weiter rückläufig entwickeln werde. „Die Nachfrage dürfte zunächst aber weiter steigen, der zusätzliche Bedarf wird also vermutlich von der Opec plus zu decken sein. Diese kann das Angebot dann nach Belieben steuern und zum Beispiel künstlich knapp halten, um höhere Preise zu erzielen“, sagt der Experte.
Zuletzt dürfte der Ölmarkt laut McGrail auch Zulauf von Investoren erhalten haben, die Positionen in noch deutlich teurerem Erdgas abgebaut hätten. „Das Marktumfeld legt den Gedanken nahe, dass Kraftwerke Erdgas durch günstigeres Öl ersetzen sollten. Diesem Szenario sind wohl auch viele Marktteilnehmer gefolgt, in der Realität ist eine solche Substitution aber häufig wohl nicht so einfach zu bewerkstelligen“, führt McGrail aus. Tatsächlich ist ein solcher Austausch laut Fritsch weniger in Europa, sondern vielmehr in südostasiatischen Schwellenländern zu beobachten.
Andere asiatische Staaten kauften derweil den Löwenanteil der Lieferungen an Flüssigerdgas (LNG) auf. „Japan ist ein Inselstaat, Südkorea grenzt auf Land nur an Nordkorea – deshalb verfügen beide Staaten naturgemäß über keine Pipeline-Anbindungen“, führt der Commerzbank-Experte aus. McGrail verweist zudem darauf, dass der Markt die hohe Nachfrage aus China nicht vorhergesehen habe. „Obwohl die LNG-Preise bereits sehr hoch sind, bin ich für ihre langfristige Entwicklung bullish eingestellt“, sagt der Analyst. Große europäische Konzerne, die den Markt dominierten, seien auf die Energiewende konzentriert und bauten ihre LNG-Kapazitäten kaum signifikant aus. Laut Fritsch würde es durchaus Sinn ergeben, die Zahl der europäischen Terminals für den LNG-Import zu erhöhen, um am Erdgasmarkt nicht zu abhängig von Russland zu werden. „Bislang reicht die Importmenge dafür noch nicht aus – allerdings besteht ohnehin das Problem, dass LNG viel teurer ist als Pipeline-Gas.“
Dass auch Letzteres aber auf sehr hohen Niveaus notiert, gründet sich nach McGrails Ansicht auf eine Kombination verschiedener Faktoren. Die Produktion in der Nordsee steige nicht in ausreichendem Maß, während die Förderung in großen Gasfeldern auslaufe. Da auch die Energiegewinnung aus Kohle vielerorts heruntergefahren werde, die Versorgung aus erneuerbaren Energien dies aber nicht auffangen könne, sei die Abhängigkeit von Erdgas enorm hoch. „Der Ausstieg aus der Atomkraft und nun auch aus der Kohle lässt Erdgas als einzig verbliebene grundlastfähige Energiequelle für die Stromversorgung zurück“, betont auch Fritsch. Energie aus erneuerbaren Quellen lasse sich nicht in ausreichendem Maß speichern – erst wenn sich dies ändere, werde der Gasbedarf zurückgehen.
„Die weitere Entwicklung des Gaspreises hängt stark vom Umfang der Lieferungen aus Russland nach Europa ab“, sagt Fritsch. Aktuell scheine wieder mehr Gas über die Jamal-Pipeline am Übergabepunkt Mallnow an der deutsch-polnischen Grenze anzukommen, nachdem dort zeitweise tagelang überhaupt keine Zuflüsse eingetroffen seien. Russlands Präsident Wladimir Putin habe zwar zusätzliche Lieferungen nach Deutschland und Österreich zugesagt, dennoch führen die Marktteilnehmer derzeit auf Sichtweite. „Aufgrund der niedrigen Füllstände der hiesigen Erdgasspeicher reagieren die Erdgaspreise äußerst sensibel auf Schwankungen der Gaslieferungen“, führt Fritsch aus.
Mächtige Waffe
Die Europäische Union wirft Russland vor, Lieferungen zurückzuhalten, was laut McGrail nicht den Tatsachen entspricht. Die Androhung eines Lieferstopps stelle für Putin zwar eine mächtige Waffe dar. „Moskau wird es aber nicht zu weit treiben, um die europäischen Staaten nicht als Kunden zu verlieren“, sagt McGrail. Das Hauptproblem liege für Europa ohnehinvielmehr darin, dass die Lagerkapazitäten nicht groß genug seien. „Wer sich in eine regenerative Zukunft bewegen will, muss höhere Energiereserven für Situationen bereithalten, in denen der Wind nicht weht, die Sonne nicht scheint und die Versorgung aus erneuerbaren Quellen somit nicht ausreicht“, sagt McGrail.
Statt Produzenten fossiler Energieträger den Rücken zu kehren, sollten Investoren laut McGrail eher nach Öl- und Gasproduzenten suchen, die daran arbeiten, ihre selbst verschuldeten Treibhausgasemissionen herunterzuschrauben. „Es gibt viele Branchenvertreter, die in Bezug auf den ESG-Trend aufgewacht sind und fokussierte Ausgaben angestoßen haben, um ihre Ausstöße signifikant zu senken“, sagt der Analyst. Allerdings sei der Großteil der Nachhaltigkeitsinvestoren für eine Inklusion solcher Unternehmen wohl nicht offen.
Stattdessen erwartet McGrail mehr und mehr Ausschlusskriterien. „Ein kategorischer Ausschluss von Öl- und Gasproduzenten ist nicht zielführend. Dadurch steigen zwar die Finanzierungskosten für diese Unternehmen, allerdings steht für sie ohnehin der Abbau bestehender Schulden im Fokus“, führt der Stratege aus. Die steigenden Energiepreise übersetzten sich in einen höheren freien Cash-flow, so dass die Öl- und Gasproduzenten sogar mehr Mittel an die verbliebenen Aktieninvestoren zurückfließen lassen könnten. Wer also konstruktiv in Energierohstoffe investiert, kann dadurch künftig möglicherweise die Mehrausgaben an der Zapfsäule und beim Versorger ausgleichen.