Wandel in der Wahrnehmung der Welt
Wandel in der Wahrnehmung der Welt
Generative KI, neue Blockbildung und Dauerkrisen – die Perspektiven haben sich 2023 verschoben.
Von Sebastian Schmid, Frankfurt
Den Titel des Vorjahresrückblicks "Krisen ohne Ende" hätte auf den ersten Blick auch auf 2023 gepasst. Der blutig zähe Kampf der Ukraine mit den eingefallenen Russen ist das ganze Jahr über weitergegangen – ohne Sicht auf ein Ende. Mit dem Krieg, den Israel als Reaktion auf den bestialischen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober im Gazastreifen führt, ist zudem der nächste Dauerkonflikt von kalt auf heiß geschaltet worden. Derweil hat sich die Bundesregierung von Krise zu Krise gehangelt – angefangen mit dem Streit um das Gebäude-Energie-Gesetz (GEG) bis hin zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Umwidmung nicht genutzter Kreditermächtigungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie für den Klima- und Transformationsfonds so nicht rechtens war.
Neue Blockbildung?
Aber vielleicht ist die grundlegende Herangehensweise, die Welt als Ansammlung von Krisen zu beschreiben, eine falsche. Denn wann gab es jemals ein Jahr ohne Krisen? Was 2023 aus meiner Sicht herausstach, ist indes eine zunehmend verändernde Wahrnehmung der Welt. Sowohl der Blick aus Europa auf den Rest der Welt als auch umgekehrt. Was sich 2022 in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine bereits angedeutet hat, wurde 2023 bestätigt: Die Interessen aufstrebender Länder wie China, Indien oder auch der Golfstaaten sind eben nicht der gleichen Gestalt wie die der westlichen Industrienationen. Bei globalen Krisen wird es künftig schwierig, gemeinsame Positionen zu finden.
Gegen Ende des Jahres zeigte sich dies auch im zähen Ringen um ein Ergebnis bei der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai. Die Erleichterung darüber, dass erstmals ein langsamer Abschied von fossilen Energieträgern den Weg in die Erklärung fand, ist eine eurozentrische Sicht auf die Dinge. Papier ist geduldig, dürfte sich manches Opec-Land gedacht haben, als es der Formulierung auf den letzten Metern doch noch zustimmte. Auch in Deutschland ist der Klimaschutz im Ranking der Prioritäten im abgelaufenen Turnus weit nach unten gerutscht. Das zeigte sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in den katastrophalen Wahlergebnissen der Ampel-Parteien in den Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Es bestätigt sich eben, was schon immer galt: Wenn unmittelbare Probleme wie Inflation, Rezession und Sorgen um eine Bewältigung der Migration auftreten, rücken mittelbare Probleme wie der Klimawandel in der Wahrnehmung der Menschen weiter in den Hintergrund.
Aber jeder Krise wohnen ja auch Chancen inne. So hat die Krise der deutschen Fußball-Nationalmannschaft anderen Sportarten Zeit im Rampenlicht gewährt. Deutschland ist erstmals Weltmeister im Basketball geworden. Und nicht nur das: Bereits im Januar war den Hockeyherren dasselbe gelungen. Zugegeben, letzteren Titel haben wahrscheinlich die wenigsten noch in Erinnerung. Auch, dass das Ende der Maskenpflicht in Deutschland noch nicht einmal ein Jahr zurückliegt, zeigt, wie schnell die Gewöhnung einsetzt. Was kam noch dieses Jahr neu: Generative künstliche Intelligenz (KI) war im Frühjahr dank ChatGPT plötzlich in aller Munde. Mittlerweile ist die anfängliche Euphorie verflogen und Sorgen treten in den Vordergrund. Die Europäische Union versucht diese mit dem AI Act, der den Umgang mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz regeln will, aufzunehmen. Allerdings fällt die Kritik der Wirtschaft deutlich aus. Kein Wunder: KI-Technologie hält sich schließlich nicht an geografische Grenzen. Doch kaum eine Technologie dürfte die Wahrnehmung der Welt stärker verändern. Ob der Papst in einer weißen Daunen-Designerjacke oder die brutale Verhaftung von Donald Trump – künstliche Intelligenz erzeugt täuschend echt wirkende Bilder. Seit 2023 gilt: Vertraut nicht nur euren Augen. Das ist ein Wahrnehmungswandel, der bleibt, und dessen Ausmaß sich noch gar nicht abschätzen lässt.