„Bislang gab es in Europa keine großen Flame-outs“
Andreas Hippin.
Herr McCracken, was steckt hinter der rasanten Vermehrung der Einhörner?
Der Aufstieg der Einhörner in Großbritannien und Kontinentaleuropa wird derzeit größtenteils von der Verfügbarkeit von Risikokapital angetrieben. Venture-Capital-Fonds wollen in IT- oder Biotechnologiefirmen mit sehr großem Wachstumspotenzial investieren. Bei Einhörnern geht es um schnelles Wachstum, womöglich eine weltweite Expansion, sicher aber über mehrere Länder hinweg.
Warum spielt das eine so große Rolle?
Sie müssen ihre Wettbewerber schlagen. Deshalb müssen sie eine Menge Risikokapital einsammeln, um die Expansion zu finanzieren. Die gute Nachricht ist: Es gibt immer mehr Venture-Capital-Fonds, insbesondere in Großbritannien. Wir haben mehr als 300 aktive Risikokapitalgeber. Es gibt also eine Menge Geld, um diese Firmen zu unterstützen.
Welche Gründe gibt es neben der Verfügbarkeit von Risikokapital?
Es gibt jetzt auch viele Gründer, die solche Firmen mit hohen Wachstumsraten aufbauen wollen. Zudem ist es billiger als vor zehn Jahren, Tech-Firmen an den Start zu bringen. Wenn man eine Idee für eine Firma hat, lassen sich die Bausteine dafür viel günstiger beschaffen als je zuvor, egal ob es sich dabei um die Personalverwaltung, die Buchhaltung, das Cloud Computing oder das Hosting der Daten handelt. Das ermöglicht Gründern, sich auf die Übertragung ihrer Idee in die Wirklichkeit zu konzentrieren und so viele Kunden wie möglich zu akquirieren.
Das hört sich ein wenig nach Schema F an.
Es gibt fast schon ein Handbuch dafür, wie man Unternehmen zum Wachsen bringt. Sie müssen sich keine Sorgen machen, wie sie sich vergrößern. Sie haben erfahrene Berater und Boardmitglieder, die von Risikokapitalgebern entsandt wurden, um ihnen dabei zu helfen. Es gibt zudem einen Pool erfahrener Talente, die sie einstellen können.
Woher kommen diese Leute?
Vielleicht hat jemand Jahre in einer großen Softwarefirma verbracht und dort eine Menge gelernt, gut verdient und weiß, wie man ein solides Geschäft aufbaut. Gut finanzierte Start-ups mit neuen und aufregenden Ideen können nun sagen: „Wir haben gerade 10, 50 oder 100 Mill. Pfund eingesammelt. Komm zu uns. Werde COO, CTO oder Personalchef. Wir werden so schnell wachsen. Wir haben das Budget dafür und wollen, dass Du die Führung übernimmst.“
Klappt das denn?
Sie sind in der Lage, sowohl erfahrene Leute als auch Berufseinsteiger, die eine aufregende Ausbildung oder ein Universitätsstudium hinter haben, zu rekrutieren. Früher wären sie vielleicht zu einer Investmentbank gegangen, wo man 20 Stunden am Tag in einer harten Unternehmenskultur arbeitet. Oder zu einer Kanzlei, wo es genauso ist. Nun könnten stattdessen zu einem aufregenden Start-up gehen, das die Welt verändern will. Start-ups konzentrieren sich mehr auf die Unternehmenskultur, auf das Team, in dem auch unerfahrene Mitarbeiter einen wichtigen Beitrag leisten können.
Und warum sind die Bewertungen so hoch?
Hauptsächlich weil mehr Risikokapital dazukommt, vor allem aus dem Ausland. Früher war es so, dass eine Firma die frühen Finanzierungsrunden im eigenen Land mit den dort ansässigen Risikokapitalgebern bestritt. Seit der Pandemie können US-Investoren Deals aus New York oder Silicon Valley über Zoom mit europäischen Firmen machen. Europäische Investoren drängen in ähnlicher Weise in britische Firmen.
Warum das?
Weil die Bewertungen hier vergleichsweise niedrig sind, insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten. Das hat zu einer Welle von Kapital geführt, die ab Series-B-Finanzierungsrunden in die Wachstumsfinanzierung schwappt. Das hat die Bewertungen nach oben getrieben. Ein guter Entrepreneur kann Term Sheets von 40 oder 50 Fonds einsammeln und denken: Okay, ich verdoppele meine Bewertung, weil ich weiß, dass einer der großen Fonds da draußen einen Scheck zu einer Milliardenbewertung ausstellen kann.
Wie sind diese Runden strukturiert?
In der Welt des Venture Capital gibt es zwei wundervolle Dinge: „Anti-Dilution“ und „Liquidation Preference“. Wenn ein Fonds bei einer Bewertung von 1 Mrd. Euro investiert, kann er sagen: Wenn die Bewertung jemals unter diesen Wert fallen sollte, weil es nicht so gut gelaufen ist, steigt unser Anteil. Damit bleibt die Beteiligung erhalten, auch wenn die Bewertung gefallen sein sollte.
Und wie funktioniert „Liquidation Preference“?
Wenn das Unternehmen in Schwierigkeiten gerät und es zu einem Notverkauf kommt, erhält der Investor sein Geld zurück, bevor irgendjemand anderes Geld erhält, noch vor den Gründern und anderen Anteilseignern. Das ist keine risikolose Geldanlage, aber das Risiko wurde reduziert. Das hat zu diesen sehr, sehr hoch bewerteten Firmen geführt.
Warum gehen diese Unternehmen erst so spät an die Börse?
In der Vergangenheit waren die Mittel, die heute für die späte Wachstumsphase verfügbar sind, einfach nicht vorhanden. Deshalb gingen Unternehmen an die Börse, wenn sie 100 Mill. Pfund oder mehr benötigten. Ein Inittial Public Offering war der einzige Weg. Nun gibt es Investoren, die sonst am öffentlichen Markt agieren, aber bereit sind, früher Geld in privat gehaltene Tech-Firmen zu stecken. Ein Scheck über 10 Mill. Pfund oder ein Investment von 100 Mill. Pfund sind für sie kleine Einsätze. Weil es so viel Geld in den privaten Märkten steckt, gibt es viel mehr Möglichkeiten, privat Geld einzusammeln.
Hat das auch andere Vorteile?
Ein IPO-Prozess ist manchmal ziemlich schmerzhaft, weil es alles einer so genauen Prüfung unterworfen wird. Was lieben öffentliche Märkte? Berechenbares Wachstum. Wenn ein Unternehmen Quartal für Quartal Wachstum vorhersagen und diese Ziele dann konsistent erreichen oder übertreffen kann, werden immer mehr Investoren am öffentlichen Markt seine Aktien kaufen wollen. Solange sie im Hyperwachstumsmodus sind und die Welt versprechen, können sie manchmal auch ein Quartalsziel verfehlen, etwa wenn sich unerwartete Dinge wie die Pandemie ereignen.
Und an den privaten Märkten?
Wenn sie privat gehalten werden, können sie ein Quartal verfehlen, und ihre privaten Investoren werden sie weiter unterstützen. Sie werden nicht verprügelt, weil sie ein oder zwei Quartale danebengelegen haben, vorausgesetzt es gab gute Gründe und es gibt einen Plan für die Erholung. Am öffentlichen Markt würden sie dagegen von den Analysten auseinandergenommen.
Was tun sie also?
Wenn Tech-Firmen heute an die Börse gehen, sind sie schon weiter entwickelt, was den Umsatz angeht. Sie sind deshalb weniger riskant und viel berechenbarer. Deshalb sind sie besser dazu geeignet, an der Börse gehandelt zu werden.
Wie geht es weiter?
Wir beobachten regelmäßig Runden, die über 100 Mill. Pfund hinausgehen, und die Bewertungen dieser Unternehmen erreichen nun für gewöhnlich die Milliardenschwelle. Der nächste magische Schwellenwert liegt bei 10 Mrd. für ein „Decacorn“. Es gibt weniger davon. Aber zuletzt sammelte ein französisches NFT bei einer Series B-Runde mehr als 500 Mill. Dollar ein, obwohl sich die Firma noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befindet. Das zeigt, dass sich die ganze Risikokapitalfinanzierungslandschaft verschoben hat. Zum Einhorn zu werden, ist heute nicht mehr ganz so schwer wie vor fünf oder zehn Jahren. Deshalb sehen wir Rekordwerte.
Wird sich der Trend fortsetzen?
Das Risikokapital wird noch eine Weile fließen und es wird noch mehr Einhörner geben. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Venture-Capital-Geber haben in den vergangenen zwölf Monaten reichlich Pulver trocken gehalten. In Europa sind es fast 40 Mrd. Dollar, in den USA knapp 200 Mrd. Dollar. Ein großer Teil des US-Geldes wird nach Großbritannien und Europa fließen. Und das ist nur Venture Capital. Das Geld der Private-Equity-Gesellschaften, die nun Investments in der Wachstumsphase tätigen, der Anleger vom öffentlichen Markt und der Hedgefonds, die nun auch in privat gehaltene Firmen investieren, ist dabei noch gar nicht enthalten.
Und wenn es an der Börse bergab gehen sollte?
Selbst wenn es an den öffentlichen Märkten zu einer Korrektur oder einem Crash kommen sollte, würden die dort aktiven Anleger weiter privaten Deals hinterherjagen, denn bei den privat gehaltenen Firmen der Tech-Branche kann man Wachstum und Rendite finden. Die Geldversorgung wird nicht abreißen. Zudem gibt es mehr aufregende Branchen, in denen sich bahnbrechende Unternehmen in frühen Phasen befinden und viel Potenzial haben.
Als da wären?
Digitales Gesundheitswesen, Biotechnologie, Software, künstliche Intelligenz. Das Datenaufkommen explodiert, also werden immer mehr Dateninfrastrukturfirmen wachsen. Bei Fintech geht es gerade erst richtig los. Wir hatten schon viele Fintech-Einhörner, die sich an die Verbraucher wenden. Nun erwarten wir mehr Einhörner im B2B-Segment und in Bereichen wie Versicherungen oder Embedded Finance. Wir erwarten, dass noch viele Einhörner aus Großbritannien und Europa kommen werden.
Was spricht für London?
London hat davon profitiert, dass sein Venture-Capital-Ökosystem schon länger besteht. Mir sind seit den späten 1990er-Jahren Risikokapitalfonds bekannt. Ende der 2000er-Jahre habe ich bei einem angefangen. Ich war Zeuge des enormen Wachstums in den vergangenen Jahren, der Explosion von ein paar Dutzend auf mehr als 300 in Großbritannien aktive Fonds. Das allein wird schon mehr Einhörner hervorbringen. In Europa wächst die Zahl der Venture-Capital-Fonds, britische Fonds platzieren Partner in Städten auf dem Kontinent, US-Fonds in London und anderen europäischen Städten.
Was hat das für Folgen?
Es bedeutet nur, dass die anderen europäischen Tech-Zentren ebenso schnell wachsen werden wie London in den vergangenen Jahren. Sie müssen aber auch noch ein bisschen aufholen. Hoffen wir, dass London die Fonds halten kann und sich immer neue hier ansiedeln. Das hängt natürlich auch davon ab, wie sie von der Regierung unterstützt werden. Solange die britische Regierung Risikokapitalgeber ermutigt und Gründern Steuervorteile gewährt, wird sich das Wachstum der Tech-Branche fortsetzen. Sobald sie Barrieren errichtet, werden wir einen Rückgang sehen.
Wie ist es um die Due Diligence bei privaten Deals bestellt?
Das hängt davon ab, in welcher Phase man sich befindet. Im Frühstadium ist so viel Venture Capital verfügbar, dass der Markt von den Gründern bestimmt wird, vorausgesetzt sie haben Erfolge vorzuweisen oder ihr Start-up wächst rasant in einem aufregenden Segment. Sie können schneller als je zuvor von einer breiteren Auswahl von Gebern Geld einwerben. Die Risikokapitalfonds liefern sich also ein Rennen darum, die besten Firmen zu finden und zu finanzieren.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Wenn das erste Treffen positiv war und der Gründer den Risikokapitalgebern gefällt, stellen sie einfach den Scheck aus und vergessen ihn nahezu, bis das Unternehmen entweder gewachsen ist oder mehr Geld braucht. Das passiert, wenn der Scheck nur einen Bruchteil des Fonds ausmacht (in der Regel weniger als 5 %). Diese Art von „Spray and Pray“-Investments ist heute in der Anfangsphase zweifellos stärker verbreitet. In manchen Fällen gibt es bei „heißen“ Deals deshalb weniger Due Diligence, weil Investoren, die schwanken und sich dafür Zeit nehmen, außen vor bleiben könnten.
Gilt das nur für Early Stage?
In der Wachstumsphase beobachten wir, dass einige Hedgefonds wie Tiger und andere auf hohe Geschwindigkeit bedachte Investoren bei heißen Deals auch keine Zeit für Due Diligence haben. Sie wählen deshalb auch den „Spray and Pray“-Ansatz. Im Vergleich zur Größe ihrer Hedgefonds sind die 10 Mill. oder 50 Mill. Pfund, die sie in ein heißes Tech-Unternehmen in fortgeschrittener Entwicklung stecken, ein sehr kleiner Betrag. Es wird also weniger überprüft. Allerdings stellen die Venture-Capital-Vertreter im Board ebenso Schecks aus wie Tiger und die Hedgefonds. Die Risikokapitalgeber überlegen sich das immer noch ziemlich gut und haben einen guten Überblick über die Firmen. Es gibt zudem Bemühungen um bessere Corporate Governance in Großbritannien. Deshalb halte ich die Governance in dieser Phase für gut. Wir hatten bislang keinen Fall wie Theranos, wo alles nur vorgetäuscht war. Aus meiner Sicht verdienen britische Firmen, die Wachstumsfinanzierungen bekommen, diese auch. Die Bewertungen mögen hoch sein, aber die Firmen bieten Wachstumsperspektiven. Bislang gab es in Europa keine großen Flame-outs.
Das Interview führte