Start-up-Hauptstadt Berlin

Die Berliner Einhornherde wird größer und vielfältiger

Berlin ist auch gemessen an der Zahl der Nachwuchsfirmen mit milliardenschweren Bewertungen die deutsche Start-up-Hauptstadt. Doch die Berliner Einhornherde wird nicht nur größer, sondern auch vielfältiger.

Die Berliner Einhornherde wird größer und vielfältiger

Von Stefan Paravicini, Berlin

Die jüngsten Start-ups aus Berlin, die es in privaten Finanzierungsrunden mit Investoren auf eine Bewertung oberhalb von 1 Mrd. Dollar geschafft haben, sind ein Lieferdienst und ein E-Commerce-Spezialist. Das weckt auf den ersten Blick Erinnerungen an Delivery Hero und Zalando, zwei der frühesten Berliner „Einhörner“, die mittlerweile in der ersten deutschen Börsenliga angekommen sind und es hier gemeinsam auf eine Marktkapitalisierung von 50 Mrd. Euro bringen. Doch die Einhornherde, die zehn Jahre nach der Gründung von Delivery Hero und etwas mehr als zwanzig Jahre nach der Gründung des Internet-Auktionshauses Alando durch die Brüder Marc und Oliver Samwer – ein Schlüsselmoment für die Berliner Start-up-Szene – durch die Hauptstadt trabt, ist nicht nur größer, sondern auch vielfältiger als noch vor wenigen Jahren.

Der Informationsdienst Crunchbase liefert auf der Suche nach sogenannten Einhörnern aus Berlin – also privat finanzierten Nachwuchsunternehmen mit einer Bewertung oberhalb von 1 Mrd. Dollar – neben dem Sofort-Lieferdienst Gorillas, der das Ranking gemessen am eingesammelten Risikokapital nach der jüngsten Finanzierungsrunde anführt, den Online-Broker Trade Republic, das Insurtech Wefox, die Sightseeing-Plattform Getyourguide, die Neobank N26, die Banking-as-a-Service-Anbieter Solarisbank und Mambu, die Content-Management-Plattform Contentful sowie die Logistik-Start-ups Forto und Sennder. Allein diese zehn haben laut Crunchbase in 69 Finanzierungsrunden mittlerweile 6,5 Mrd. Dollar bei Investoren eingesammelt. Zur Einordnung: In den von Crunchbase erfassten gut 2200 Finanzierungsrunden von Start-ups mit Sitz in Berlin sind seit 1999 insgesamt 15,2 Mrd. Dollar zusammengekommen (siehe Grafik).

Ebenfalls mit in die Liste der milliardenschweren privat finanzierten Nachwuchsunternehmen aus Berlin gehören nach allgemeiner Lesart mittlerweile auch der Gorillas-Konkurrent Flink, der E-Commerce-Spezialist Berlin Brands Group, die Verkehrs- und Buchungsplattform Omio sowie Tier Mobility, ein Vermieter von E-Rollern und E-Mopeds, die auch in Berlin allgegenwärtig sind. Der Einlagenplattform Raisin dürften Investoren spätestens nach dem Zusammenschluss mit Deposit Solutions aus Hamburg einen Wert deutlich oberhalb von 1 Mrd. Dollar zumessen. Wer mit dieser Liste nicht zufrieden ist, fügt noch das britisch-deutsche Fintech Sumup hinzu, das für seine Kartenlesegeräte bekannt ist und bei Investoren 1,4 Mrd. Dollar eingesammelt hat, streng genommen aber im Fintech-Hub London verortet werden muss.

Das jüngste Mitglied in der Berliner Einhornherde ist der Schnelllieferdienst Flink, bei dem sich Investoren um den US-Lieferdienst Doordash laut Medienberichten gerade zu einer Bewertung oberhalb von 2 Mrd. Dollar beteiligt haben. Flink, die vor weniger als einem Jahr gegründet wurde, fließen bis zu 600 Mill. Dollar zu. Fast zeitgleich machte in der vergangenen Woche die Nachricht über eine knapp 1 Mrd. Dollar schwere Finanzierung beim Wettbewerber Gorillas die Runde, an der sich auch Delivery Hero beteiligt. Es ist laut Crunchbase die bisher größte Finanzierungsrunde für ein Start-up aus Berlin, sieht man einmal vom Gesamtvolumen der jüngsten Finanzierung des Unterhaltungselektronik-Vermieters Grover ab, die Ende Juli zu einer nicht genannten Bewertung glatt 1 Mrd. Dollar einsammelte, wobei der größte Teil auf Fremdkapital in einer Asset-Backed-Struktur entfiel.

„Decacorn“ sitzt in München

Im Rest der Republik schaffte es bisher nur das Münchner Software-Start-up Celonis in diese Höhen, das im Sommer 1 Mrd. Dollar zu einer Bewertung von 10 Mrd. Dollar aufnahm und zum ersten „Decacorn“ aus Deutschland aufstieg. Die Bewertung für die etwas mehr als ein Jahr alte Gorillas liegt in der jüngsten Finanzierungsrunde laut Medienberichten in der Größenordnung von 3 Mrd. Dollar. Insgesamt haben die Schnelllieferdienste aus der Hauptstadt, die Lebensmittel-Bestellung per App und die Lieferung innerhalb von wenigen Minuten versprechen, in wenigen Monaten rund 2 Mrd. Dollar bei Investoren eingesammelt.

Doch Berlin kann mehr als Lieferdienste. Erst vor ein paar Wochen hat der E-Commerce-Spezialist Berlin Brands Group (BBG) den 700 Mill. Dollar schweren Einstieg der Beteiligungsgesellschaft Bain Capital gemeldet. Im Zuge der Transaktion übernahm Bain auch die Minderheitsanteile des Finanzinvestors Ardian an BBG. Der Spezialist für das Geschäft mit Direct-To-Consumer (D2C)-Marken wurde dabei laut Medienberichten mit 1,2 Mrd. Dollar bewertet. Insgesamt haben Berliner Start-ups aus dem D2C-Sektor in den vergangenen zwölf Monaten rund 2 Mrd. Dollar bei Investoren eingesammelt, mit denen sie Jagd auf unabhängige Online-Marken machen, deren Geschäft sie unter dem eigenen Dach konsolidieren wollen.

Von den zehn bisher größten Finanzierungsrunden für Start-ups aus Berlin entfallen laut Crunchbase sieben auf den laufenden Turnus. In dieser Liste ist auch die gut 200 Mill. Euro schwere Runde des Logistik-Spezialisten Forto enthalten, die über ihre Online-Plattform Containerfrachtkapazitäten im weltweiten Land-, Luft- und Seeverkehr vermittelt und es bei der Runde unter Führung von Softbank auf eine Bewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar schaffte. Die ehemalige Freighthub ist schon die zweite Digitalspedition mit milliardenschwerer Bewertung aus Berlin, nachdem Sennder zum Jahresanfang im Rahmen einer 160 Mill. Dollar schweren Runde zum Einhorn gekrönt wurde. Die Series C hat der Spezialist für die Online-Vermittlung von Vollladungen für den Frachtverkehr auf der Straße im Sommer um 80 Mill. Dollar erweitert und bei dieser Gelegenheit auch den Pre-IPO-Investor Baillie Gifford an Bord geholt. Bei Crunchbase wird die erweiterte Finanzierung trotzdem nicht unter den Top 10 gelistet.

Weiter vorne stehen im Ranking von Crunchbase die jüngsten Runden von Berliner Einhörnern aus dem Fintech-Sektor. Denn im Frühjahr machte erst der Online-Broker Trade Republic mit der bis dahin größten Finanzierung für ein deutsches Start-up von sich reden. Unter der Führung von Sequoia sammelte die Plattform 900 Mill. Dollar ein. Nur wenige Tage später folgte der Neo-Versicherer Wefox mit einer 650 Mill. Dollar schweren Finanzierung unter Führung von Target Global. Fehlt eigentlich nur noch N26, die schon seit geraumer Zeit an der mutmaßlich letzten Finanzierungsrunde vor einem Börsengang bastelt und damit schon bald für Schlagzeilen sorgen dürfte. N26-Finanzchef Jan Kemper, der in diesem Jahr an Bord gekommen ist, hat im Sommer des vergangenen Jahres trotz der Corona-Pandemie erfolgreich Finanzierungen für das Berliner Reise-Start-up Omio geschnürt, das demnächst auch wieder eine Runde bei Investoren drehen könnte.

An die Börse via IPO oder Spac

Wohin die Reise der Einhornherde geht, ist offen. Mit dem Online-Gebrauchtwagenhändler Auto1 hat es im Februar ein milliardenschweres Start-up aus der Hauptstadt an die Börse geschafft. Die Sprachlernapp Babbel peilt an der Börse ebenfalls eine Milliardenbewertung an, hat die Pläne für ein IPO in der vergangenen Woche aber erst einmal wieder eingesammelt. Home To Go, die Berliner Plattform für die Vermittlung von Ferienwohnungen, ist gerade via Spac an die Börse gegangen und bringt es auf eine Marktkapitalisierung von 1 Mrd. Euro.

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