„Wir erfahren aus der Politik viel Aufmerksamkeit im positiven Sinne“
Im Interview: Helene von Roeder
„Wir erfahren aus der Politik viel Aufmerksamkeit“
Die Merck-Finanzchefin über den Standort Deutschland, Anstrengungen in Forschung und Entwicklung sowie Ausdauer in der M&A-Strategie
Von Sabine Wadewitz, Frankfurt
Merck setzt auf eine Kombination von internen und externen Innovationen, um nach Rückschlägen die Lücken in der Medikamentenentwicklung wieder zu füllen. CFO Helene von Roeder erläutert die strategischen Ziele des Dax-Konzerns und wünscht sich, dass die Menschen wieder mehr Spaß an der Arbeit finden.
Frau von Roeder, Merck hatte zuletzt Rückschläge in der Pharmaentwicklung zu verschmerzen. Wie will der Konzern die Pharma-Pipeline wieder füllen?
Das Scheitern des zur Behandlung von Krebs getesteten Wirkstoffs Xevinapant war in der Tat ein großer Rückschlag für uns. Wir hatten große Hoffnung in das Medikament gesetzt, zumal die Phase-2-Studie vielversprechende Ergebnisse gebracht hatte. Es sollte uns helfen, dass Merck eine Refokussierung von Forschung & Entwicklung bereits vor diesem Misserfolg begonnen hatte.
Wie sieht diese Neuausrichtung aus?
Wir setzen auf eine Kombination von interner und externer Innovation. Diese Strategie werden wir weiterverfolgen. Im vergangenen Jahr haben wir mehrere Einlizenzierungs-Transaktionen mit Pharmapartnern abgeschlossen, unter anderem zwei in China und eine in den USA. Wir schauen uns extern um, welche Therapieansätze oder Wirkstoffe zu uns passen.
Was sind die Kriterien, dass es passt?
Es muss sich um Therapien handeln, in denen Merck selbst gut ist − nur dann können wir Projekte valide bewerten. Die Kooperation muss zudem bezahlbar sein. Wir berücksichtigen dabei natürlich die Positionierung unserer Pharmasparte im globalen Wettbewerb. Mit den Schwergewichten im Pharmamarkt wollen wir nicht in Konkurrenz treten. Wir sind uns unserer Nischen bewusst und bauen unsere Pharma-Pipeline mit sehr selektiven und klar definierten zusätzlichen Zielen weiter aus.
Sie sprechen vor allem von Einlizenzierungen. Könnten auch Akquisitionen in der Pharma stärker in den Fokus rücken?
Wir schließen nichts aus. Wenn wir M&A-Targets finden, die perfekt in unsere Pharmastrategie passen, schauen wir uns diese natürlich genau an. Der Kapitalmarkt und auch wir brauchen jedoch ein ganz klares Verständnis, dass die Pharmasparte von Merck nachhaltig wächst. Unser primärer Fokus liegt nicht darauf, eine Lücke in der Pipeline über einen M&A-Deal zu füllen.
Helene von Roeder, Merck-CFOUnser primärer Fokus liegt nicht darauf, eine Lücke in der Pipeline über einen M&A-Deal zu füllen.
Die Anleger müssen sich also auf eine gewisse Zeit einstellen, in denen Merck kein neues innovatives Produkt auf den Markt bringen wird?
Die Zeitspanne sollte überschaubar sein. Wir haben einen Wirkstoff in Phase 3 und mehrere laufende Phase-2-Studien, ein weiteres Medikament startet nun in Phase 3. Gleichwohl bleibt mit den Rückschlägen eine Lücke in unserer Planung. Das Pharmageschäft von Merck wächst dennoch. Wir erzielen rund 75% unserer Umsätze mit im Markt etablierten Produkten in Indikationen wie Herz, Diabetes, Schilddrüse und wir sind Weltmarktführer im Bereich Fertility. Unsere Pharmaprodukte sind fest in den weltweiten Megatrends im Gesundheitsmarkt verankert. Zudem sehen wir eine zunehmende Marktdurchdringung in Schwellenländern, in denen immer mehr Geld für Gesundheit ausgegeben wird.
Merck hat im Mai im Beisein von Bundeskanzler Scholz den Grundstein für ein neues Forschungszentrum gelegt. Die Investition von 300 Mill. Euro ist Teil eines Programms über 1,5 Mrd. bis 2025 am Standort Darmstadt. Wird Merck nun Investitionspläne strecken, bis wieder mehr Medikamente in der Pipeline sind?
Das haben wir nicht vor. In den Projekten in Darmstadt geht es nicht primär um Healthcare. Wir eröffnen unter anderem bald ein modernes Ausbildungszentrum für unsere Azubis. Der Grundstein wurde für ein Life-Science-Gebäude gelegt. Entstanden ist bereits eine Membranfabrik, im Bau sind noch zwei Forschungszentren für Healthcare. Es gibt für uns keinen Grund, nicht mehr in Deutschland zu investieren.
Helene von Roeder, Merck-CFOEs gibt für uns keinen Grund, nicht mehr in Deutschland zu investieren.
Nicht nur der Bundeskanzler war dieses Jahr in Darmstadt, kurz danach hatte Merck Besuch von Wirtschaftsminister Habeck. Sieht sich das Unternehmen in seinen Interessen von der Politik ausreichend wahrgenommen und unterstützt?
Wir erfahren aus der Politik viel Aufmerksamkeit im positiven Sinne. Die Regierung ist bestrebt, innovative Unternehmen zu unterstützen. Trotzdem gibt es ein paar Themen, die wir als Gesellschaft gemeinsam adressieren müssen. Wir investieren 1,5 Mrd. in Gebäude, doch darin müssen Menschen arbeiten. Und diese Menschen brauchen eine gute Ausbildung.
Es sollte mehr in Bildung investiert werden?
Speziell die Investitionen in Kitas, Kindergärten und Schulen reichen nicht aus. Wir brauchen aber auch ein neues Verständnis für Arbeit. Man gewinnt gegenwärtig den Eindruck, Arbeiten sei gesellschaftlich nicht mehr erwünscht.
Helene von Roeder, Merck-CFOMan gewinnt gegenwärtig den Eindruck, Arbeiten sei gesellschaftlich nicht mehr erwünscht.
Woran lässt sich das erkennen?
Gesellschaftlich wird das Narrativ gespielt, wonach Arbeit keinen Spaß macht und man deshalb seine Freizeit maximieren sollte. Ich finde aber: Arbeit macht Spaß. Wir müssen uns fragen, wie wir die Menschen wieder zurück ins Büro bekommen. Da brauchen wir gesellschaftlich ein neues Bewusstsein.
Ist das denn Sache der Politik oder müssen nicht Unternehmen attraktiver werden, damit die Belegschaft mehr Spaß an der Arbeit findet?
Auf jeden Fall. Während der Corona-Pandemie waren wir in der Lage, ein ganzes Land virtuell zu managen. Wie cool war das! Nun müssen wir die Leute aus dem Homeoffice zurück ins Büro holen. Innovation, Kreativität, Teamarbeit funktionieren nicht über den Bildschirm. Deswegen ist es so wichtig, dass die Menschen wieder gerne zur Arbeit kommen und sich mit Kolleginnen und Kollegen austauschen wollen. Ich nehme in vollen Büroetagen eine deutlich positivere Stimmung und guten Teamgeist wahr als in vorwiegend leeren Arbeitsräumen.
Kommen wir zum operativen Geschäft, das bei Merck auch wieder Spaß machen soll. Nach der Konsolidierung 2023 will der Konzern 2024 wieder auf Wachstum schalten. In der Prognose für 2024 verweist das Management auf negative Mix-Effekte in der Sparte Life Science und positive Mix-Effekte bei Electronics. Was verschiebt sich im Sortiment?
In der Sparte Life Science haben wir sehr hart gearbeitet, um während der Pandemie liefern zu können. Das hat dazu geführt, dass gewisse Materialien mit sehr hohen Margen verkauft wurden. Das normalisiert sich nun und nivelliert die Marge wieder auf ein Vor-Corona-Niveau plus/minus der realisierten Einsparungen.
Wie sieht das in Electronics aus, dem Geschäft mit Materialien für die Halbleiterindustrie?
Das Semiconductor-Geschäft hatte eine kräftige Delle mit einem deutlichen Margenverfall. Wir haben diese Flaute genutzt für eine Positionierung des Angebots rund um die Systeme für künstliche Intelligenz und für große Datenflüsse. Mit diesen Produkten ist Merck auf einer Qualitätsebene, die fast kein anderes Unternehmen so darstellen kann. Dass wir diese hochwertigen Materialien anbieten können, hat uns in eine extrem starke Position gebracht. Und der KI-Hype sorgt für hohe Nachfrage in diesem Chipsegment, wovon die Margen im Electronics-Geschäft profitieren. Die gesamte Chipbranche ist aber noch nicht wieder angesprungen, das ist wichtig.
Helene von Roeder, Merck-CFODass wir diese hochwertigen Materialien anbieten können, hat uns in eine extrem starke Position gebracht.
Wann wird der Halbleitermarkt in der Breite wieder aufholen?
Es wird besser. Die Chipbranche ist zyklisch, und die Parameter stehen auf Grün, dass es wieder bergauf geht. Offen ist, wann der Aufschwung wirklich losgeht. Dann kommen auch die weniger hochmargigen Materialien wieder ins Spiel.
Merck ist mit starkem Cashflow ins Jahr gestartet und rechnet im gesamten Turnus mit einer signifikanten Steigerung. Was sind die Treiber, geht es nochmal um Fortschritte im Nettoumlaufvermögen?
Die Corona-Pandemie und geopolitische Risiken hatten uns veranlasst, mehr Vorräte aufzubauen, um lieferfähig zu bleiben, etwa für unsere Kunden in der Pharmabranche. Das sehen sie auch in anderen Konzernen. Nun sind wir dabei, die Vorratshaltung wieder zu optimieren. Das wird das Nettoumlaufvermögen nochmal reduzieren. Es herrscht mehr Zuversicht, dass die globalen Lieferketten intakt sind. Wir sind aber auch darum bemüht, uns stärker lokal mit Vorprodukten zu versorgen, um das Risiko zu diversifizieren.
Im kommenden Jahr werden zwei Anleihen fällig über 1,6 Mrd. Dollar und 750 Mill. Euro. Wird Merck refinanzieren oder tilgen?
Da bin ich tiefenentspannt. Wir haben einen starken Cashflow und werden zu gegebener Zeit entscheiden, ob wir zurückzahlen. Das in 2024 ausstehende Hybridkapital ist aus Sicht der Ratingagenturen integraler Bestandteil der Kapitalstruktur. Das müssen wir also mit Hybridkapital ersetzen.
Merck hat mehr M&A-Aktivität angekündigt. Soll das A-Rating auf jeden Fall gehalten werden?
Die Investment-Grade-Einstufung wollen wir halten. Merck hat in der Vergangenheit schon bewiesen, dass Schulden nach Akquisitionen schnell wieder abgebaut werden.
Was hat Merck veranlasst, Ende 2023 das Scope-Rating zu kündigen und sich auf Moody’s und S&P zu fokussieren?
Uns hat die Idee gefallen, Merck einem weiteren unabhängigen Rating zu unterziehen. Deshalb waren wir bei Scope mit dabei. Am Ende hat uns das sehr viel Arbeit gekostet, der Benefit hat das aber noch nicht gerechtfertigt.
Wieviel Spielraum hat der Konzern für Akquisitionen?
Ich will hier keine konkrete Zahl nennen. Wir haben auf jeden Fall genügend Spielraum, um die Targets zu kaufen, die wir gerne haben möchten. Man bekommt leider nicht zu jeder Zeit das Wunschziel zum adäquaten Preis. Aber Merck kann sehr gut warten, bis das perfekte Target, der perfekte Preis und der perfekte Moment gekommen sind, das zeigt unsere Historie.
Helene von Roeder, Merck-CFOMan bekommt leider nicht zu jeder Zeit das Wunschziel zum adäquaten Preis.
Das M&A-Umfeld sollte sich auch für Merck aufgehellt haben.
Hier muss man differenzieren. Im Life-Science-Bereich war es eine Zeitlang so, dass die Verkäufer für die Bewertung den Covid-Umsatz-Peak angesetzt haben, die Wachstumsrate, die zu diesen Rekorden geführt hat, und dies mit einem aktuellen Multiple versehen wurde. Hier ist wieder mehr Bodenhaftung eingekehrt, bei Private Equity noch mehr als im Kapitalmarkt. Dort herrscht noch Unsicherheit, welche mittelfristigen Wachstumsraten nach dem Ende des Corona-Booms anzusetzen sind.
Warum ist Private Equity schon nüchterner in der Bewertung?
In dem Segment herrscht mehr Exit-Druck, um Liquidität zu schaffen. Wir sehen eine gute Gesprächsbereitschaft auf Private-Equity-Seite über mögliche Targets.
Das Interview führte Sabine Wadewitz.