Regulierungsoffensiven

China-Anleger stecken in der Politikfalle

Pekings Regulierungsoffensiven schlagen ausländischen Investoren aufs Gemüt. China-Aktien koppeln sich in der Folge zunehmend vom Geschehen am Weltmarkt ab.

China-Anleger stecken in der Politikfalle

Das Bild von der unaufhaltsam aufstrebenden Welt- und Wirtschaftsmacht China wird in Peking gerne dem eines schleichenden Niedergangs der von politischen Querelen und der Corona-Pandemie geschwächten USA gegenübergestellt. Die wachsende Rivalität zwischen den beiden Weltmächten nährt eine Debatte über die sukzessive Entkoppelung und Abschottung der beiden weltgrößten Volkswirtschaften als Gegenentwurf zum hehren Globalisierungskonzept mit seinem scheinbar eingebauten Win-win-Charakter. Globale Investoren mit prompter Bereitschaft zur Verlagerung von Kapitalströmen kann diese Diskussion nicht völlig kaltlassen.

Der Blick auf die Robustheit der Handelsströme zwischen China und dem Rest der Welt und der Attraktivität des chinesischen Marktes als Tummelplatz und Wachstumsterritorium für ausländische Direktinvestoren gibt bislang wenig Anlass, sich auf Entkoppelungspessimismus einzulassen. Beim Blick auf das Finanzmarktgeschehen im Reich der Mitte kann Beobachter allerdings durchaus das Gefühl beschleichen, dass mit dem Jahr 2021 eine Wende eingeleitet wurde. Engagements in chinesischen Aktien und Unternehmensanleihen müssen neu überdacht werden, weil politische Risikokalküle auf den Kopf gestellt worden sind.

Dramatische Wertvernichtung

Zwei Ereignisse ragen sicherlich heraus. Zum einen die bahnbrechende Antimonopol- und Regulierungskampagne, mit der sich Peking den heimischen Internet- und Technologiesektor auf eine Art und Weise vorgeknöpft hat, die dessen sagenhafte Wachstumsstory der vergangenen zehn Jahre in ein neues Licht rückt. Damit scheint eine kaum berechenbare politische Willkür des Staates gegenüber privaten Techkonzernen zum wesentlichen Bestimmungsgrund ihrer Marktbewertung geworden zu sein. Die Kursrücksetzer bei Chinas führenden App-Betreibern, von Alibaba, Tencent und Meituan bis Didi und Baidu, haben in Hongkong und New York, wo die meisten der chinesischen Techriesen notieren, zu Marktwertverlusten von ungefähr 1 Bill. Dollar geführt.

Während im Technologiesektor vehemente staatliche Eingriffe für Verzweiflung sorgen, sehen sich zugleich insbesondere ausländische Anleger bei ihrer Erwartungshaltung zu staatlichen Auffangaktionen für zahlungsunfähige, weil exorbitant überschuldete, Immobilienentwickler wie Evergrande aufs Glatteis geführt. Über lange Jahre hinweg konnten sich expansionshungrige chinesische Baufirmen und andere Junkbond-Emittenten problemlos im Offshoremarkt mit Dollar-denominierten Anleihen bei globalen Investoren refinanzieren. Diese gierten nach satten Zinskupons und verließen sich gleichzeitig in Sachen Ausfallrisiken auf eine implizite Staatsgarantie für solche Unternehmen oder Sektoren, die man wegen ihrer systemischen Bedeutung als „too big to fail“ erachtete und damit im Ernstfall als Kandidaten für einen staatlichen Bail-out.

Die große Frage ist nun, ob ausländische China-Investoren nach zum Teil verheerenden Erfahrungen im Jahr 2021 zu einem Repricing neigen, das die Bewertungen chinesischer Tech-Aktien auch längerfristig im Keller hält, während die gegenwärtig nahe 20% liegende Durchschnittsrendite auf Hochzinsanleihen in luftiger Höhe verharrt. Damit stellt sich auch die Frage, ob chinesische Wertpapiere weiter mit gutem Gewissen als typische Schwellenländerinvestments einsortiert werden können oder vielmehr eine eigene Anlageklasse bilden. Das ergibt sich nicht nur aus der Bedeutung der chinesischen Wirtschaft im globalen Kontext, sondern ist auch dem wachsenden Einfluss des politischen Apparats auf die Geschicke von Privatunternehmen geschuldet.

Zum Stichwort Entkoppelung und eigene Anlageklasse bieten die gravierenden Performance-Unterschiede zwischen chinesischen Aktien und dem Rest der Welt im Jahr 2021 einigen Diskussionsstoff. Pandemische Stimulusaktionen in den USA und Europa haben wesentlich dabei geholfen, spekulative Laune zu entfachen, die sich vor allem bei Aktien, Kryptoassets und auch Immobilien entladen hat. Demgegenüber hat Chinas Regierung die auf Basiseffekten beruhende statistische Gewissheit einer Einhaltung des offiziellen Wachstumsziels für 2021 zum Anlass genommen, sich mit fiskalischen und geldpolitischen Stimuli praktisch gänzlich zurückzuhalten. Stattdessen hat man sich mit Verweis auf die Finanzstabilität und Verschuldung auf Regulierungsoffensiven verlegt, mit denen sowohl Immobilienfinanzierungen wie auch die Konsumkreditvergabe stark zurückgeschraubt wurde. Unterdessen haben eine rigorose Nulltoleranzpolitik in Bezug auf Covid-Risiken das Dienstleistungsgewerbe und Verbrauchervertrauen schwer angenagt.

Für Anleger in China ist das Resultat der unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Prioritäten alles andere als zufriedenstellend. Tatsächlich hat es seit der Jahrtausendwende auf der Aktienseite noch niemals einen so heftigen Performance-Unterschied zwischen China und dem Rest der Welt gegeben. Während der MSCI China Index, der chinesische Werte auf den Festlandmärkten (A-Aktien) sowie in Hongkong und New York abbildet, im Jahr 2021 fast genau 20% eingebüßt hat, ist das Barometer für das Aktienbörsengeschehen auf der Weltkugel, der MSCI All Countries World Index (ACWI), im selben Zeitraum um glatt 20% gestiegen.

Bei Corporate Bonds zeichnet sich ein ähnliches Bild. Dollar-denominierte chinesische Hochzinsanleihen kommen laut Angaben von Bloomberg auf einen Performance-Nachteil von 25% gegenüber globalen Junkbond-Portfolios. Dies ist die höchste Divergenz seit mindestens zehn Jahren.

Chinas Regierung wacht seit einem spektakulären Börsencrash im Jahr 2015 mit Argusaugen und staatsorchestrierten Stützungsmanövern darüber, dass die auf den Festlandbörsen tonangebenden Kleinanleger von heftigen Markteinbrüchen verschont bleiben. Tatsächlich sieht die Jahresbilanz 2021 in Schanghai und Shenzhen auch gar nicht so übel aus. Der Blue-Chip-Index CSI 300 weist für das Gesamtjahr ein Minus von 7% aus. Das bedeutet nach äußerst strammen Zuwächsen von 27% und 36% in den beiden vorangegangenen Jahren natürlich eine Ernüchterung, aber keinen Beinbruch.

Für Chinas politische Führung war ausschlaggebend, dass sich der Index nach einem ziemlich jähen Absturz von 5800 auf 4900 Punkte zwischen Mitte Februar und Mitte März wieder stabilisieren konnte und mit einem Seitwärtsgeplätscher für den Rest des Jahres die Festivitäten für den 100-jährigen Geburtstag der Kommunistischen Partei stimmungsmäßig nicht unterwanderte. Möglich ist dies freilich nur gewesen, weil die Kursmisere bei Chinas führenden Internet- und Techwerten und der dramatische Niedergang von Immobilienaktien hauptsächlich in Hongkong und New York gelistete chinesische Unternehmen betraf, so dass der Großteil der rund 100 Millionen chinesischen Kleinanleger von der Misere weitgehend ausgespart blieb.

Im Hongkonger Markt freilich ist der Katzenjammer groß. Der Leitindex Hang Seng sackte im Jahr 2021 von 27500 auf gut 23000 Punkte ab und büßte damit rund 16% ein – eine Entwicklung, die nicht einmal die größten Marktpessimisten auch nur annähernd erwartet hätten. Vielmehr führte eine muntere Auftaktrally den Hang Seng in den ersten sechs Wochen des Jahres um 13%in die Höhe, bevor Mitte Februar die erste Verkaufswelle bei Tech-Aktien einsetzte.

Im Zuge stetig neuer Hiobsbotschaften zur Verschärfung des Pekinger Tech-Feldzugs und einer sowieso mauen Verfassung der Hongkonger Wirtschaft hielt sich der Baissetrend praktisch ununterbrochen über das Jahr hinweg und hat dem Hang Seng ein Fünfjahrestief eingebrockt. Dass der Ende Juli 2020 stolz lancierte Hang Seng Tech Index mit den 30 größten in Hongkong notierenden Sektorwerten von A wie Alibaba bis T wie Tencent noch stärker unter die Räder gekommen ist, versteht sich von selbst. Hier landet man bei einer Jahresperformance von –35% und einem Abstand zum im Februar erreichten Allzeithoch von glatt 50%.

Goldener Drache im Sinkflug

Noch schlechter freilich sieht es für an der Wall Street primär gelistete chinesische Aktien aus, die sich fast ausschließlich dem Technologiesektor beziehungsweise der „New Economy“ zuordnen lassen. Der sogenannte Nasdaq Golden Dragon Index als beste Approximation der Performance von US-gelisteten China-Aktien verzeichnete ein Jahresminus von 45%, während der Abstieg vom Februarhoch sich auf fast 60% belief. Hier haben die jahrelang vom chinesischen Techboom reichlich profitierenden US-Anleger also ein regelrechtes Annus horribilis hinter sich.

Die Stimmung ist schwer vergiftet. Die geo- und sicherheitspolitischen Streitigkeiten zwischen beiden Ländern setzen völlig neue Maßstäbe für künftige chinesische Börsengänge in den USA. Schlimmer noch: Peking legt es darauf an, US-Investoren möglichst ganz aus als sicherheitsrelevant angesehenen chinesischen Datenkonzernen fernzuhalten, was mit einem aufwendigen Verlagerungsprozess der Primärlistings chinesischer Techriesen von New York nach Hongkong einhergehen dürfte.

In Bezug auf die Bewertungsverhältnisse gelten Alibaba, Tencent und zahlreiche andere chinesische Techunternehmen mittlerweile zwar als ausgemachte Schnäppchen, denen manche Analysten im neuen Jahr Zuwächse von bis zu 40% zutrauen. Das setzt aber wohl voraus, dass sich das Sentiment von politischen Einflussfaktoren ungestört ausschließlich auf die betriebliche Performance sowie künftige Wachstums- und Monetisierungschancen im chinesischen Internetsektor zu konzentrieren vermag. Um das zu glauben, müssen Anleger allerdings nicht nur mit Blick auf die Tech-Branche im Allgemeinen, sondern auch auf das chinesisch-amerikanische Beziehungsklima sehr optimistisch gestimmt sein.

Von Norbert Hellmann, Schanghai

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