Immobilienriese

China Evergrande tanzt auf der Rasierklinge

Wer dem Immobilienriesen China Evergrande als Anleger die Treue hält, braucht starke Nerven. Denn dieser gehört zu den am höchsten verschuldeten Unternehmen auf dem Erdball.

China Evergrande tanzt auf der Rasierklinge

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Wer dem Immobilienriesen China Evergrande Group als Anleger die Treue hält, braucht starke Nerven. Chinas führender Wohnimmobilienentwickler gilt unter den sowieso schon waghalsig finanzierten heimischen Immobilienriesen als aggressivster Player. Evergrande hat einen atemberaubenden Expansionskurs in den vergangenen Jahren mit einem Fremdfinanzierungsrausch unterfüttert, der die Anleger sowohl auf der Aktien- wie auch auf der Bondseite nach Luft schnappen lässt. Die vom chinesischen Milliardär und passionierten Pokerspieler Hui Ka Yan gegründete und geführte Evergrande zählt zu den am höchsten verschuldeten Unternehmen auf dem Erdball, was der um Finanzstabilität ringenden chinesischen Regierung längst ein Dorn im Auge ist.

Evergrande war im vergangenen Jahr in eine akute Liquiditätsklemme geraten, die einige Unruhe am chinesischen Bondmarkt aufkommen ließ und letztlich auch Peking auf den Plan rief. Im Herbst stellten Finanzregulatoren neue Richtlinien beziehungsweise Kenngrößen für maximal zulässige Verschuldungsrelationen von Immobilienkonzernen vor. Diese müssen sie bis Ende 2022 erfüllen, um weiterhin Zugang zu neuen Bank- und Bondrefinanzierungen zu erhalten.

Wie Evergrande im März bei der Vorstellung der Jahresergebnisse für 2020 versicherte, wird der Schuldensanierungsplan vor allem darauf bauen, neue Refinanzierungsquellen am Aktienkapitalmarkt zu erschließen. Gleichzeitig will man sich von Randaktiva trennen sowie mit einer aggressiven Preisstrategie für einen rascheren Verkaufsumschlag bei neuen Wohnungsbauprojekten sorgen, um die Liquiditätssituation zu stärken.

Schuldenberg abgetragen

Evergrande, deren Konzernverschuldung im Juni 2020 einen Rekordwert von 760 Mrd. Yuan (fast 100 Mrd. Euro) erreicht hatte, konnte den Berg zum Märzultimo auf 674 Mrd. Yuan abtragen. Seitdem hat es erneut Fortschritte gegeben, denn einer jüngsten Ankündigung zufolge ist die Gesamtverschuldung zur Jahresmitte um weitere 15% auf 570 Mrd. Yuan verringert worden. Evergrande betont nun, dass man das Verhältnis der Nettoschulden zum Eigenkapital wieder auf die Marke von 100% gebracht hat und damit eine der drei als sogenannte „rote Linien“ bezeichneten Kernanforderungen der Regulatoren erfüllt.

Der im Frühjahr vorgestellte Sanierungsplan sieht nun einen weiteren Abbau der Verschuldung auf etwa 350 Mrd. Yuan bis zur Jahresmitte 2023 vor, wobei für das laufende Jahr eine Schuldenreduzierung um 150 Mrd. Yuan geplant ist. Gleichzeitig betont Evergrande, dass man die neuen Soliditätsanforderungen für chinesische Immobilienfirmen spätestens bis Ende 2022 allesamt einhalten können wird. Lauter frohe Botschaften also, könnte man meinen, aber wie sich Evergrande aus der Verschuldungsmisere herauszuquälen versucht, überzeugt Ratingagenturen, die die gewaltigen Dollarbondemissionen des Unternehmens bewerten, nicht.

Am Mittwoch rückte die Agentur Moody’s mit der neuesten Ratingabstufung heraus und schickte die Bonitätsnote mit „B2“ noch eine Stufe tiefer in den Junk-Bond-Keller. Die Begründung lautet, dass Evergrande zwar positive Anstrengungen zur Festigung ihrer Finanzstabilität unternommen hat, gerade aber in den nächsten 12 bis 18 Monaten angesichts turmhoher Tilgungsverpflichtungen und nahender Fristen für kündbare Bonds vor wachsenden Default-Risiken steht. Zuvor war Fitch Ratings zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt und senkte ihre Note auf „B“.

Erträge erodieren

Die Aktionäre an der Hongkonger Börse sehen sich verstärkt in Sippenhaft mit den Bondanlegern, denn Evergrandes Entschuldungskapriolen erfordern immer tiefere Griffe in die Refinanzierungskiste und bedingen Notverkäufe oder Spin-offs von Geschäftseinheiten, die Zweifel an der Tragfähigkeit des Geschäftsmodells wecken. Abgesehen davon sieht sich Evergrande im Kerngeschäft mit Wohnimmobilienprojekten einer Ertragserosion gegenüber. Im Jahr 2020 schrumpfte der bereinigte Gewinn um 26% auf 30,1 Mrd. Yuan. Im Geschäftsjahr 2019 waren die Gewinne bereits um knapp 50% gesunken. Die zur Stärkung des Cash-flow nötigen Preisoffensiven beim Neuwohnungsverkauf dürften auch in diesem Jahr auf die Profitabilität des Immobiliengeschäfts drücken.

Kein Wunder also, dass die Evergrande-Aktie 2021 keinen Fuß auf den Boden zu bekommen scheint. Zwar kletterte der Kurs Mitte Januar kurzfristig um 20% auf 17,26 HK-Dollar, dann ging dem Titel jedoch rasch wieder die Luft aus. Bei gegenwärtig 10,12 HK-Dollar ist man vom Jahreshoch gut 40% entfernt und steht nur knapp über einem Mitte Januar verzeichneten Vierjahrestief bei 9,91 HK-Dollar.

Der Kontrast zur ersten Jahreshälfte 2020 ist besonders markant. Von Ende März bis Anfang Juli waren Evergrande nämlich in einem sagenhaften Aufgalopp um 230% auf 28 HK-Dollar geklettert. Dann klappte die Entwicklung schlagartig um, als die Märkte gewahr wurden, dass der Im­mobilienriese mit seinen exorbitanten Verschuldungsrelationen nicht mehr zurechtkommen würde. Eine späte Erkenntnis, die Evergrandes Marktwert binnen eines Jahres um zwei Drittel schrumpfen ließ.

Die Ratingabstufung durch Moody’s brachte der Evergrande-Aktie einen Kursrückgang um weitere 4% ein. Auch in den kommenden Monaten dürfte die wegen des niedrigen Streubesitzes schwankungsanfällige Notierung sensibel auf Nachrichten an der Bondbedienungsfront reagieren, wobei ein größerer Befreiungsschlag nicht in Sicht ist. Dennoch rechnet das Gros der Analysten mit einer Bodenbildung beim gegenwärtigen Kursniveau von 10 HK-Dollar und setzt darauf, dass es Evergrande binnen der nächsten zwölf Monate gelingt, mit einer Stabilisierung der Finanzsituation den Fokus stärker auf das Ertragspotenzial im Wohnimmobiliengeschäft zu lenken.

So liegt der Durchschnittswert für das Kursziel auf Jahressicht bei 15,50 HK-Dollar, was einen Schub um gut 50% bedeuten würde. Noch mehr Luft verorten Sektoranalysten chinesischer Häuser wie CCB International, Huatai Securities oder Guotai Junan. Sie scheinen es Hui Ka Yan zuzutrauen, den Kopf nochmals aus der Schlinge zu ziehen und eine erneute Monsterrally bei Evergrande zu entfachen.