Furcht vor Zinswende

Das Inflations­gespenst geht am Markt um

Seit einiger Zeit geht an den Kapitalmärkten das Inflationsgespenst um. Es herrscht Verunsicherung, denn Investoren befürchten den Schwenk der Zentralbanken zu einer restriktiveren Geldpolitik. Andere Marktakteure bleiben unterdessen gelassen und sehen nur ein temporäres Teuerungsphänomen.

Das Inflations­gespenst geht am Markt um

Von Kai Johannsen, Frankfurt

An den Kapitalmärkten ist das Inflationsgespenst seit Wochen omnipräsent. Kern der Befürchtungen der Marktteilnehmer ist, dass es mit einem zunehmenden Abebben der Covid-19-Pandemie zu einer wirtschaftlichen Erholung auf globaler Ebene kommt. Private Haushalte sollten wieder mehr konsumieren bzw. den in den vergangenen Monaten ausgefallenen Konsum zumindest nachholen. Dies sollte sich auf Tourismus und Gastronomie sowie Konsumgüter positiv auswirken. Auch aus dem Bereich der Unternehmen sollte es verstärkte Aufträge geben, so etwa bei Investitionsgütern sowie Vorprodukten. An den Rohstoffmärkten sollte sich dies in Preisanstiegen bei wichtigen Industriemetallen und auch beim Ölpreis auf längere Sicht bemerkbar machen.

Signal aus den USA

Diese Entwicklung dürfte sich – so die Einschätzung vieler Experten – dann auch in einem zunehmenden Teuerungsdruck bemerkbar machen, Inflationsanstiege werden vor allem in den USA und auch in der Eurozone bzw. Europa prognostiziert. Angefacht wurden die Inflationsbefürchtungen jüngst durch Teuerungssignale aus den USA – und auch Großbritannien. Es gab einen überraschend starken Anstieg der US-Verbraucherpreise. Sie kletterten im April um 4,2%, nach einem Plus von 2,6% im Monat zuvor. Analysten hatten im Schnitt mit einem Anstieg der Preise um 3,6% gerechnet. Am Markt dreht sich die Diskussion nun um die Frage, ob der Preisanstieg nur vorübergehender Natur ist oder ob sich die Märkte auf ein dauerhaft höheres Preisniveau einstellen müssen, das dann auch die Zentralbanken, allen voran Fed und Europäische Zentralbank (EZB), zum Handel zwingt, d.h. zu einer restriktiveren Geldpolitik. Damit würde ein sogenanntes Tapering wahrscheinlicher, was bedeutet, dass die Anleihekäufe, die über Jahre enormen Druck auf die Renditen betroffener Anleihen wie Staats- oder Bankbonds erzeugt haben, zurückgefahren werden.

An den Anleihemärkten war die Inflationssorge in den vergangenen Wochen deutlich zu sehen. Lag die zehnjährige Bundrendite Anfang dieses Jahres noch bei –0,60%, stieg sie bis auf das Zweijahreshoch im Bereich von knapp unter –0,10%. Auch an anderen Laufzeitenpunkten der Bundkurve stiegen die Renditen an, auch wenn der Bereich von Geldmarktsätzen bis zu zehnjährigen Papieren immer noch im Minus liegt. Nicht nur bei den Bundesanleihen zeigten sich diese Auswirkungen, auch die zehnjährigen Pendants aus Frankreich sowie aus der Eurozonen-Peripherie – namentlich Spanien und Italien – kletterten. Von einem Crash mit erheblichen Verwerfungen, die Zentralbanken zu neuerlichen Käufen zwingen würden, damit Marktteilnehmer nicht in Schwierigkeiten geraten, ist der Markt aber noch meilenweit entfernt. Auch am Primärmarkt gibt es keine Verzerrungen in dem Sinne, dass es in Erwartung spürbar höherer Verzinsungen zu Käuferstreiks gekommen wäre. Durch die Bank weg ist die Aufnahmefähigkeit des Marktes hoch.

Immer wieder Gipfelsturm

Auch an den Aktienmärkten hinterließ das Inflationsgespenst Eindruck. Kursrücksetzer waren immer wieder zu beobachten. Denn am Markt keimt mit Inflationsdiskussionen und Tapering-Befürchtungen die Sorge auf, dass die Zeit des billigen Notenbankgeldes, das eine wesentliche Triebfeder des Marktes in den vergangenen Jahren gewesen ist, nun zu Ende sein könnte. Da möchte so mancher verständlicherweise lieber früher als zu spät Kasse machen. Bisher konnten sich die europäischen Aktienmärkte aber stets von den Kursschwächen erholen. Der Dax setzte immer wieder zum Gipfelsturm an und erreichte Rekordstand. Auch der Dollar profitierte. Sollte die Fed tatsächlich zu Zinssteigerungen übergehen, würde dies den Greenback ohne Frage stützen.

Die US-Notenbank Fed versuchte unlängst, die Gemüter an den Märkten ein wenig zu beruhigen. Fed-Chef Jerome Powell stufte den Inflationsanstieg in den USA als „vorübergehend“ ein. So sehen es auch einige andere Marktteilnehmer wie etwa Mark Dowding, Chief Investment Officer bei Bluebay Asset Management. „Es würde uns jedoch nicht überraschen, wenn dieses Vertrauen in die Fed in den nächsten Wochen auf die Probe gestellt wird, sobald sich neue Anzeichen für steigende Preise in höheren Inflationserwartungen niederschlagen“, sagt er. Der bislang taubenhaften Haltung der Fed könnten laut Dowding daraufhin die Flügel gestutzt werden, sofern sich in den nächsten Wochen die Indikatoren für eine kurzfristige wirtschaftliche Stärke häufen. „Infolgedessen machen wir uns schon in den kommenden Wochen auf einen Anstieg der US-Renditen gefasst, wobei die zehnjährige Rendite noch vor Ende des Sommers auf über 2% steigen dürfte.“ Aktuell liegt die zehnjährige US-Treasury-Rendite bei um die 1,65%.

Carsten Klude, Chefvolkswirt bei M.M. Warburg in Hamburg, ist vorsichtig hinsichtlich einer dauerhaft höheren Teuerungsrate in der Eurozone. „Ein Blick in die Vergangenheit verrät, dass die Kombination aus einer ultralockeren Geldpolitik und einer stimulierenden Fiskalpolitik kein Garant für nachhaltig höhere Preissteigerungsraten ist. So verfehlte die EZB ihr Inflationsziel auch lange nach der Finanzkrise“, hält er in einer Analyse fest. Werde der Beginn der weltweiten Finanzkrise auf Dezember 2007 datiert, habe sich der Preisverfall in Deutschland über einen langen Zeitraum erstreckt und erst nach 20 Monaten seinen Tiefpunkt erreicht (Juli 2009: –0,5% y/y). Auch die Preise hätten sich nur schleppend erholt, die Zielinflationsrate von knapp unter 2% sei erst Mitte des Jahres 2011 markiert worden. Gleichzeitig habe die EZB den Hauptrefinanzierungssatz von 4,25% (September 2008) binnen weniger als einem Jahr auf 1% verringert, was nach klassischen makroökonomischen Theorien wie dem Monetarismus einen schnelleren und höheren Anstieg der Inflationsraten hätte auslösen müssen.

Auf die Frage, ob nun mit dauerhaft höheren Inflationsraten und steigenden Zinsen zu rechnen sei, meint Klude: „Dass nun ein Prozess steigender Inflationsraten einsetzt und es dauerhaft zu Preisänderungsraten von deutlich über 2% kommt, ist unwahrscheinlich. Denn nach wie vor ist der Übertragungseffekt der lockeren Geldpolitik auf die Realwirtschaft stark beeinträchtigt“, sagt er. Zwar habe sich die Geldmenge (etwa M0, Bargeld und Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB) stark erhöht, jedoch verbleibe die Liquidität größtenteils im ersten Geld-Kreislauf zwischen Notenbank und Geschäftsbanken und erreiche nicht den Kreislauf zwischen Geschäftsbanken und Realwirtschaft. Außerdem spreche die Verflachung der Phillips-Kurve gegen eine strukturelle Erhöhung der Inflationsrate aufgrund eines wirtschaftlichen Aufschwungs. „Wir erwarten daher in unserem Basisszenario mit Nachholeffekten nur einen temporären Anstieg der Inflationsrate in 2021 auf 2,5% und in 2022 einen Rückgang auf 1,4%.“

Lagarde toleriert Teuerung

Klude und auch andere Marktexperten sowie Volkswirte verweisen auch auf die Politik und die Äußerungen der EZB. So will EZB-Präsidentin Christine Lagarde die günstigen Finanzierungsbedingungen in der Eurozone, sprich die niedrigen Anleiherenditen für die diversen Emittentengruppen, beibehalten. Dies spricht allein schon gegen höhere Leitzinsen im gemeinsamen Währungsraum. Sollte die Teuerung in den kommenden Wochen und Monaten etwas stärker anziehen, gehen viele Marktteilnehmer trotzdem nicht davon aus, dass die EZB schnell einen Schwenk zu höheren Zinsen vollziehen wird. Lagarde hat laut Klude bereits signalisiert, dass sie ein symmetrisches Inflationsziel erwäge und einen temporären Anstieg der Inflation über der Zielinflationsrate von knapp unter 2% ohne Zinssteigerungen toleriert. Ferner sei die EZB vor dem Hintergrund der gestiegenen Staatsverschuldung ihrer Mitgliedsländer daran interessiert, anhaltend günstige Finanzierungsbedingungen im Euroraum aufrechtzuerhalten und die wirtschaftliche Erholung nicht durch kräftige Zinsanstiege abzuwürgen. Klude geht von einem anhaltenden Niedrigzinsumfeld in der Eurozone aus.