Der Britishvolt-Effekt
Boris Johnson hatte das Projekt vor fast genau einem Jahr als Beleg dafür gefeiert, dass Großbritannien der Platz an der Spitze der weltweiten grünen industriellen Revolution zukomme. Auf einem ehemaligen Kraftwerksgelände im Hafen von Blyth im nordenglischen Northumberland sollte eine Batteriefabrik von entstehen – einem Unternehmen, das aus dem Nichts gekommen war, das aber gleichwohl zum Pionier in Sachen Elektromobilität hochgelobt wurde. In dem Werk, dessen Kosten auf 3,8 Mrd. Pfund geschätzt wurden, sollten 3 000 Menschen Arbeit finden, weitere 5 000 Jobs erhoffte man sich bei Zulieferern und Dienstleistern. Grüne Elektrizität aus Norwegen, über das längste Unterseestromkabel der Welt geliefert, sollte die Fabrik antreiben. Angestrebt wurde eine Produktion von 300 000 Einheiten – genug, um jedes vierte in Großbritannien verkaufte Auto damit auszustatten. Dafür sollte es Geld aus einem staatlichen Transformationsfonds für die Autobranche geben. Die Unterstützung der öffentlichen Hand hätte dem Unternehmen ermöglicht, Milliarden von privaten Investoren wie Tritax und Abrdn einzuwerben. Kunden wie Aston Martin und Lotus beschnupperten angeblich das Projekt. Der Schweizer Rohstoffhändler Glencore investierte. Britishvolt sicherte sich per Absichtserklärung Nickelsulfat vom indonesischen Industriekonglomerat Bakrie & Brothers. Zeitweise war von einem möglichen Börsengang die Rede. Chairman Peter Rolton sagte, die London Stock Exchange wäre in so einem Fall das richtige Zuhause für das Unternehmen.
Doch folgten auf Johnson zwei weniger begeisterungsfähige Premierminister. Die Staatsknete blieb aus, weil bestimmte Meilensteine nicht erfüllt worden waren, von denen man in der Öffentlichkeit bis dahin nichts gehört hatte. Auch die Hoffnung, wenigstens einen Teil davon vorab ausgezahlt zu bekommen, erfüllte sich nicht. Der Firma blieb nur der Weg in die Insolvenz; 300 Mitarbeiter verloren ihre Arbeit. Das Gelände ist verwaist, von ein paar Wachleuten einmal abgesehen. Der bleibende Britishvolt-Effekt: Großbritannien hat für den Umstieg auf Batteriefahrzeuge wichtige Zeit verloren.
Doch es fehlt an Problembewusstsein. Denn offenkundig glaubt man in Westminster immer noch, auf Industriepolitik verzichten und im altbekannten Laissez-faire-Stil weiterwursteln zu können. Geld möchte man nicht in die Hand nehmen. Von der Autoindustrie versteht man nicht viel – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie im Vereinigten Königreich 800 000 Menschen beschäftigt. Zu einem echten Problem wird das, wenn man ambitionierte Klimaziele für den Straßenverkehr rechtsverbindlich macht, ohne eine Strategie für den dafür nötigen Wandel zu haben. Die Frustration in der Branche ist enorm. Jetzt müssten die richtigen Entscheidungen getroffen werden, fordert Mike Hawes, der Chef des Autoverbands SMMT. Doch wollte schon beim Thema EU-Austritt niemand in der Regierung auf ihn hören. Dabei wäre es dringend nötig, sich mit der Branche an einen Tisch zu setzen, um den ihr verordneten Strukturbruch so sanft wie möglich über die Bühne zu bringen.
Es dauert ein paar Jahre, um eine Gigafactory für Batterien ins Laufen zu bekommen. Dem Faraday Institute zufolge benötigt das Vereinigte Königreich mindestens fünf davon, um seine Autoindustrie zukunftsfähig zu machen. Bislang verfügt es nur über eine solche Batteriefabrik. Sie wird von der chinesischen Envision in Sunderland betrieben, was unter geopolitischen Gesichtspunkten eine gewisse Brisanz birgt. In Resteuropa befinden sich mehr als 40 Gigafactories in Planung oder bereits in Betrieb. Dort arbeiten die Betreiber eng mit den Autoherstellern zusammen, wie das Beispiel Northvolt und Volvo zeigt. Zudem werden in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union enorme Summen zur Subventionierung vermeintlich grüner Industrien bereitgestellt. Der Inflation Reduction Act von US-Präsident Joe Biden weckt Erinnerungen an den New Deal von Franklin Delano Roosevelt. In London glaubt man dagegen, das Geld zusammenhalten zu müssen, obwohl die Schuldenquote weit unter der französischen oder der italienischen liegt. Der Markt allein wird die Probleme nicht lösen können, die durch die Vorgabe entstehen, von 2030 an keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr verkaufen zu dürfen. Das zeigt sich schon an der schleppenden Entwicklung der Ladeinfrastruktur. Etwas mehr als 800 Ladestationen gehen derzeit monatlich in Betrieb. Um die vollmundigen Ziele der Regierung zu erfüllen, müssten es fast viermal so viel sein.