„Deutschland ist auf niedrigere Zinsen angewiesen“
Im Interview: Moritz Schularick
„Deutschland ist auf niedrigere Zinsen angewiesen“
Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft über die Auswirkungen der EZB-Geldpolitik und weshalb er für eine Änderung der Schuldenbremse plädiert
Im September könnte die EZB die Zinsen wieder senken. Für die angeschlagene deutsche Wirtschaft wäre das ein wichtiger Schritt, meint Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel. Welche Auswirkungen das Zinsniveau auf Investitionen, Wirtschaftswachstum und Konsum hat, erklärt der Ökonom im Interview.
Das Interview führte Martin Pirkl.
Herr Schularick, EZB-Präsidentin Christine Lagarde betont, dass bezüglich der September-Sitzung der Notenbank alles offen sei. Die allermeisten Analysten erwarten allerdings eine Zinssenkung. Würden Sie eine Lockerung der Geldpolitik im September begrüßen?
Stand heute wäre das aus meiner Sicht der richtige Schritt. Angesichts des Inflationsausblicks und der konjunkturell schwachen Entwicklung in der Eurozone und insbesondere in Deutschland ist das Ausmaß der restriktiven Geldpolitik nicht mehr angemessen.
Zentral bei der Frage nach Zinssenkungen ist natürlich der mittelfristige Inflationsausblick. Sind Sie mit der Prognose der EZB einverstanden, dass die Inflation bis Ende 2025 auf den Zielwert von 2% fällt?
Ich sehe keinen systematischen Fehler bei der Vorhersage und bin insofern damit grundsätzlich einverstanden.
Das bedeutet, Sie gehen wie die EZB davon aus, dass sich das Lohnwachstum in der Eurozone abschwächen wird?
Ich stelle keine Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale fest. Es ist richtig, dass der Kaufkraftverlust der vergangenen Jahre durch Lohnerhöhungen aktuell ausgeglichen wird. Das ist ein ganz normaler Prozess. Zudem sind die Inflationserwartungen der Verbraucher trotz des Lohnwachstums stabil. Die aktuelle Lohnentwicklung bereitet mir daher keine Sorgen.
Wie wichtig ist das Zinsniveau für deutsche Unternehmen überhaupt, auch im Vergleich zu strukturellen Faktoren sowie der weltwirtschaftlichen Lage?
Deutschland ist auf niedrigere Zinsen angewiesen. In früheren geldpolitischen Zyklen waren es andere Länder. Jetzt sind die Finanzierungsbedingungen angesichts der schwachen Konjunktur für deutsche Unternehmen zu restriktiv, während sie für Firmen in beispielsweise Spanien eher angemessen sind. Das verdeutlicht, dass es sich in einer Währungsunion immer wieder ändert, für welche Länder die Geldpolitik genau richtig ist und für welche nicht. Wie groß der konjunkturelle Anteil und wie hoch der strukturelle Anteil an der derzeitigen Wachstumsschwäche Deutschlands ist, ist schwer zu beziffern. Rund die Hälfte könnte konjunkturell bedingt sein, unter anderem durch die restriktive Geldpolitik und die weltwirtschaftliche Lage. Die andere Hälfte wäre dann die Strukturschwäche.
Liegt es ausschließlich an der schwachen Konjunktur hierzulande oder hat es noch andere Gründe, weshalb vor allem die deutsche Wirtschaft ein niedrigeres Zinsniveau gebrauchen könnte?
Der Bausektor hat in Deutschland durch den Zinsanstieg einen Absturz erlebt, den es so in anderen Euro-Ländern nicht gab. Allgemein sinkt die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern, wenn die Zinsen hoch sind. Dann verschieben Verbraucher die Ausgaben nach Möglichkeit in die Zukunft.
Welche Rolle spielt das Zinsniveau allgemein für die Ausgaben der Verbraucher?
In Deutschland ist die Konsumnachfrage nicht überaus zinssensitiv. Da spielen Faktoren wie Unsicherheiten bezüglich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung eine wichtigere Rolle. Im Immobilienbereich und bei langlebigen Konsumgütern hat das Zinsniveau aber wie bereits gesagt durchaus größere Auswirkungen.
Stichwort wirtschaftliche Entwicklung: EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte auf der Pressekonferenz nach dem Zinsentscheid die Abwärtsrisiken für die Euro-Konjunktur. Wie optimistisch blicken Sie auf die wirtschaftliche Entwicklung der Eurozone und Deutschlands?
Die Weltwirtschaft ist durch politische Unsicherheiten geprägt und das wird auch so bleiben. Sollte Donald Trump im Fall eines Wahlsieges die angekündigte Zollpolitik umsetzen, würde das inflationär für die USA wirken und das Wirtschaftswachstum in China und Europa senken. Der Zinspfad von Fed und EZB könnte in Zukunft also weiter auseinander gehen. Die negativen Effekte der Zölle auf die Wirtschaft in China und Europa wären ja durchaus im Sinne des Erfinders. Dennoch bin ich optimistisch, dass die deutsche Wirtschaft 2025 um mindestens 1% wächst.
Noch zeigt sich der deutsche Arbeitsmarkt trotz des hohen Zinsniveaus und der schwachen Konjunktur robust. Unternehmen vermeiden angesichts des demografischen Wandels Entlassungen. Bleibt das so?
Wir verlieren jedes Jahr in Deutschland bis zu einem halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum durch fehlende Arbeitskräfte. Wie Sie schon sagen, hat der demografische Wandel eine größere Eintrübung am Arbeitsmarkt verhindert. Aber es würde mich nicht wundern, wenn wir bald doch einen Abschwung sehen.
Sie haben bereits auf die strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft hingewiesen. Viele Ökonomen sprechen sich inzwischen für eine Anpassung der Schuldenbremse aus, damit der Staat mehr Spielraum für benötigte Investitionen hat. Wie stehen Sie dazu?
Zunächst einmal, Fiskalregeln zu haben, ist eine gute Idee. Ansonsten wären beispielsweise die Anreize für Regierungen groß, Wahlgeschenke zu verteilen – angesichts der alternden Gesellschaft insbesondere an Rentner. Wir brauchen aber intelligentere Fiskalregeln, als wir sie jetzt haben. Wie genau diese aussehen sollten, ist nicht trivial und die Ausgestaltung braucht Zeit. Zeit, die wir bei den militärischen Ausgaben nicht haben. Daher bin ich dafür, dass wir Militärausgaben für einen bestimmten Zeitraum – vielleicht zehn Jahre – von der Schuldenbremse ausklammern. Wir haben angesichts der niedrigen Staatsverschuldung den fiskalischen Spielraum dafür.
Weshalb sprechen Sie ausgerechnet die Militärausgaben an?
Ein russischer Sieg würde die aktuellen finanzpolitischen Debatten zur Makulatur machen. Wir müssen die Ukraine stärker unterstützen. Zudem ist der Investitionsbedarf beim Militär sehr hoch. Statt 50 Mrd. Euro pro Jahr bräuchte die Bundeswehr 100 bis 150. Das lässt sich nicht woanders einsparen. Steuererhöhungen, um diese Ausgaben zu finanzieren, wären wiederum Gift für die Konjunktur. Außerdem hätten die zusätzlichen Militärausgaben positive Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung.
Ausgaben in anderen Bereichen würde Sie aber nicht von der Schuldenbremse ausklammern?
Nein, aber über eine Reform der Fiskalregeln sollten wir diskutieren. Wir müssen mehr in Deutschland investieren, wie das am besten geht, ist aber komplex. Auf jeden Fall sollte der Staat privates Kapital stärker einbinden als bisher. Ich denke dabei etwa an den Bereich Glasfaserausbau. Auch die Überbürokratisierung verhindert Investitionen und muss abgebaut werden. Aber auch das ist kein einfaches Unterfangen. Ich rechne daher nicht mit schnellen Ergebnissen.
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