„Ich glaube nicht, dass die EZB auf der Zielgeraden ist“
„Ich glaube nicht, dass die EZB auf der Zielgeraden ist“
Im Interview: Cyrus de la Rubia
Chefökonom der Hamburg Commercial Bank erwartet hohen Preisdruck in 2025 – Wenig Spielraum für Zinssenkungen – Kritik am Inflationsziel
Die Finanzmärkte erwarten deutliche Zinssenkungen der EZB im kommenden Jahr. Cyrus de la Rubia, Chefökonom der Hamburg Commercial Bank (HCOB), sieht dagegen wenig Spielraum für Lockerungen. Der Preisdruck dürfte 2025 hoch sein, sagt er im Interview. Zudem kritisiert der Volkswirt das Inflationsziel der EZB. Um die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung von Frankreich macht er sich keine Sorgen.
Herr de la Rubia, einige der EZB-Räte waren am vergangenen Donnerstag offen gegenüber einer Zinssenkung um 50 Basispunkte. War es richtig, dass sich die Notenbank letztlich dagegen entschieden hat?
In normalen Zeiten wäre ich angesichts des schwachen Wirtschaftswachstums für eine Zinssenkung um 50 Basispunkte gewesen. Denn wenig Wirtschaftswachstum bedeutet weniger Inflationsdruck. Doch wir leben nicht in normalen Zeiten. Es gibt eine Reihe an strukturellen Faktoren, weswegen ich annehme, dass die Inflation trotz der schlecht laufenden Konjunktur erhöht bleiben wird. Daher ist es auch nicht ganz einfach, mit richtig oder falsch zu argumentieren. Ich würde sagen, dass die EZB vor dem Hintergrund ihres eindeutigen Preisstabilitätsmandats und ihres klaren Inflationsziels von 2% richtig gehandelt hat. Ob diese Mandate in dieser Form richtig sind, steht auf einem anderen Blatt.
Was kritisieren Sie am Inflationsziel?
Die EZB definiert ihr Mandat der Preisstabilität bei einer mittelfristigen Inflationsrate von 2%. Besser wäre eine Flexibilisierung. Ich denke beispielsweise an einen Korridor von 1 bis 3%. Dann könnte die EZB in der jetzigen Phase auch stärker lockern, was für die Wirtschaft wichtig wäre. So steht dem aber das Inflationsziel entgegen. Und ich habe noch keine Studie gesehen, die dargelegt hat, warum die Inflation zwingend bei ziemlich genau 2% liegen sollte.
Im kommenden Jahr steht eine Strategieüberprüfung der EZB an. Erwarten Sie dort eine Anpassung des Inflationsziels?
Es wäre wünschenswert, damit die EZB mehr Flexibilität in ihrer Geldpolitik hat. Ich gehe aber nicht von so grundlegenden Anpassungen bei der Strategieüberprüfung aus. Die Kommunikation der EZB deutet nicht darauf hin, dass eine Änderung des Inflationsziels derzeit ein Thema ist.
Sie haben eben von strukturellen Faktoren gesprochen, die die Inflation verstärken. Welche meinen Sie damit?
Der demografische Wandel und der daraus resultierende Fachkräftemangel führen dazu, dass das Lohnwachstum hoch ist, obwohl wir beispielsweise in Deutschland jetzt schon zwei Jahre ohne Wirtschaftswachstum erleben. Der Klimawandel wird ebenfalls den Inflationsdruck erhöhen. Außerdem haben wir den zunehmenden Protektionismus, nicht nur wegen des Wahlsiegs von Donald Trump in den USA.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat die zunehmende Zuversicht der Notenbank betont, 2025 die Inflation bei 2% zu stabilisieren. Sie scheinen da weniger optimistisch zu sein.
Die EZB sieht sich auf der Zielgeraden, ich glaube nicht, dass das tatsächlich der Fall ist. Aufgrund der genannten strukturellen Faktoren gehe ich davon aus, dass die Inflation im Durchschnitt im kommenden Jahr bei 2,6% liegt und 2026 sogar Richtung 3% steigen könnte.
Ich erwarte zwei Zinssenkungen um 25 Basispunkte im ersten Quartal und dann eine längere Zinspause.
Dementsprechend dürften Ihrer Einschätzung nach auch deutlich weniger Zinssenkungen anstehen, als es die Finanzmärkte einpreisen, oder?
Ich erwarte zwei Zinssenkungen um 25 Basispunkte im ersten Quartal und dann eine längere Zinspause. Der Einlagensatz läge dann Ende 2025 bei 2,5% und damit rund 100 Basispunkte höher, als das, was am Finanzmarkt derzeit eingepreist ist. 2026 halte ich auch eine Zinserhöhung der EZB für möglich.
Eine Zinssenkung der Europäischen Zentralbank um 50 Basispunkte im Januar, auf die manche Anleger auf den Finanzmärkten spekulieren, halten Sie also für ausgeschlossen?
Lagarde hat bei der Sitzung zwar Zuversicht gezeigt, dass das Inflationsziel erreicht wird, sie blieb aber dennoch auch vorsichtig und hat immer wieder betont, dass die EZB datenabhängig bleibt. Ich gehe daher davon aus, dass man im Januar vorsichtig bleibt. Für das Gesamtjahr halte ich mehr Zinsschritte nur dann für realistisch, wenn das Wachstum 2025 deutlich geringer ausfällt, als die 1,1%, die die EZB und auch wir erwarten. Sollte das Wachstum beispielsweise 0,5% oder niedriger sein, dann halte ich auch noch weitere Zinssenkungen für gut möglich. Denn dann würde sich das schwache Wirtschaftswachstum so stark auf die Inflation auswirken, dass sie trotz der strukturellen Faktoren nicht über dem Zielwert der EZB von 2% liegt.
Viel wird derzeit bei der EZB über den neutralen Zins gesprochen. Wo verorten Sie ihn und was halten Sie von der Debatte?
Ich habe keine eigenen Untersuchungen dazu gemacht, wo der neutrale Zins in der Eurozone liegt. Ich halte ihn auch nicht für hilfreich für die Steuerung der kurzfristigen Geldpolitik. Alleine schon, weil er nicht statisch ist. So kann die Geldpolitik vielleicht in einem Moment neutral wirken, dann gibt es aus irgendeinem Grund einen größeren, anhaltenden Nachfrageschub aus dem Ausland und schon wirkt der Leitzins nicht mehr neutral. Die Diskussion um den neutralen Zins ist aber interessant, weil man anhand der Schätzungen der einzelnen Ratsmitglieder ablesen kann, wie tauben- oder falkenhaft jemand ist.
Ich sehe keinen Anlass, TPI einzusetzen
Ein anderes Thema, über das mindestens außerhalb der EZB derzeit angesichts der politischen Krise in Frankreich viel diskutiert wird, ist ein möglicher Einsatz des Instruments TPI. Damit könnte die EZB französische Staatsanleihen kaufen und dadurch eine Ausweitung der Spreads zu beispielsweise Bundesanleihen verhindern. Erwarten Sie, dass die EZB TPI aktiviert?
Ich sehe keinen Anlass, TPI einzusetzen. Der Zugang Frankreichs zum Kapitalmarkt ist nicht gefährdet. Die Spreads sind zwar im historischen Vergleich hoch, aber nicht so hoch, dass man sich Sorgen um die Tragfähigkeit der Verschuldung in Frankreich machen müsste. Die Lage in Frankreich ist auch anders, als in anderen europäischen Staaten, in denen es in der Vergangenheit eine Krise gab. Frankreich steht zwar vor politisch unsicheren Zeiten, aber es hat kein ausgeprägtes Wachstumsproblem. Das Land ist bei ausländischen Investoren beliebt und auch beispielsweise beim Thema KI nicht schlecht aufgestellt.
Nehmen wir mal an, der Zugang Frankreichs zum Kapitalmarkt wäre durch die politische Krise in Gefahr. Könnte die EZB dann den Einsatz von TPI überhaupt rechtfertigen? Schließlich soll das Instrument bei „ungerechtfertigten“ Marktentwicklungen zum Einsatz kommen, die die einheitliche geldpolitische Transmission gefährden.
Das ist ein spannender Punkt. Sollte es so weit kommen, könnte man auf der einen Seite sagen, dass Frankreich an der Situation selber schuld ist und TPI für eine solche Situation nicht gedacht ist. Auf der anderen Seite gäbe es auch nicht wirklich einen bestimmten Schuldigen, weil die Lage, so sieht es ja aus, durch die gegenseitige Blockade in Frankreich entstanden ist. Sollte die EZB Frankreichs Zugang zum Kapitalmarkt gefährdet sehen, vermute ich, dass sie dann wohl TPI einsetzen wird, um eine Finanzkrise zu vermeiden. Spannend wäre allerdings, wie die EZB den Einsatz begründen würde. Aber wie gesagt, ich gehe nicht davon aus, dass Frankreich in diese Lage gerät.
Das Interview führte Martin Pirkl.
Das Interview führte Martin Pirkl.