In der Wirtschaft sind die Grünen längst salonfähig
Von Stefan Paravicini, Berlin
Die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sind in der Wirtschaft längst salonfähig. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser, einer der prominentesten Ex-Spitzenmanager des Landes, wirbt bereits seit Monaten offensiv für Baerbock als Kanzlerin. „Kanzlerinnen als Dauergäste sind wir hier gewohnt“, sagte auch Siegfried Russwurm, der Chef des mächtigen Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), vor wenigen Tagen auf dem Tag der Industrie und lächelte fröhlich in Richtung der grünen Spitzenkandidatin.
In Umfragen schnitt Baerbock vor ihren jüngsten Patzern im Wahlkampf auch unter Führungskräften bei der Kanzlerfrage regelmäßig besser ab als Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union. Und als eine übereifrige Wirtschaftslobby mit einer Kampagne gegen Baerbock schoss, in der die Spitzenkandidatin der von der Wirtschaft lange Zeit gefürchteten „Verbotspartei“ als Moses mit den Zehn Geboten auf Steintafeln karikiert wurde, sprang ihr sogleich Karl Haeusgen bei, der als Chef des Verbands der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) eine der Leitbranchen des Industriestandorts vertritt.
Vorangegangen ist dem Flirt der Bosse mit Baerbock eine Annäherung der Grünen an die Industrie. Erst im Februar verabschiedete die Partei eine eigene Industriestrategie. Kurz nach dem Beschluss des Wahlprogramms bot Baerbock einen „Pakt zwischen Industrie und Politik“ an, um die Klimaziele gemeinsam zu erreichen. „Wenn ich von Deutschland spreche, dann als stärkstes Industrieland in der Mitte Europas“, stellte die grüne Spitzenkandidatin gerade auf dem Tag der Industrie klar, der zu den größten Auftrieben der Wirtschaftskapitäne des Landes zählt. Für die verbesserten Beziehungen haben auch die Erfahrungen mit Landesregierungen unter Beteiligung der Grünen gesorgt, vorneweg mit Winfried Kretschmann, dem ersten grünen Ministerpräsidenten, der in Baden-Württemberg seine Hand über die Autoindustrie hält.
Doch auch wenn sich die Wirtschaft mit den Grünen längst ins Benehmen gesetzt hat – und umgekehrt –, sind viele Unternehmen noch unentschieden, wie sie die Aussicht auf ein schwarz-grünes Bündnis im Herbst bewerten sollen. Diese Regierungskonstellation gilt gestützt auf Umfragen und Wählerpräferenzen derzeit als die Koalition mit der größten Wahrscheinlichkeit.
Eine repräsentative Befragung der Deutschen Bank unter 200 Unternehmen zeigt, dass sich mehr als vier Fünftel der Befragten von einer schwarz-grünen Regierung Veränderungen erwarten. Die Einschätzung darüber, ob diese Veränderungen für die Unternehmen positiv oder negativ ausfallen würden, gehen aber auseinander. Immerhin: Eine relative Mehrheit von 42% der Befragten Unternehmen verknüpft mit Schwarz-Grün die Hoffnung, dass es in der aus heutiger Sicht wahrscheinlichsten Regierungskonstellation zu einem Umbau der deutschen Industrielandschaft kommen würde, und knapp zwei Fünftel rechnen mit einem staatlichen Investitionsprogramm, das auch den Unternehmen zugutekäme. Dem stehen aber die Sorgen vor einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts und vor dem schuldenfinanzierten Ausbau des Sozialstaates gegenüber, die ebenfalls von jeweils rund zwei Fünftel der Befragten geteilt werden. „Diese gegensätzlichen Einschätzungen bekräftigen unsere These, dass die deutsche Unternehmenslandschaft kein monolithischer Block ist“, schreiben die Analysten der Deutschen Bank.
Investoren blicken nach Paris
Bei Investoren sorgt nach Einschätzung der UBS in diesem Jahr nicht nur das Ende der Ära Merkel und die Aussicht auf Schwarz-Grün für Verunsicherung. Sie blicken bereits auf die französische Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022. „Politische Unsicherheit ist in diesem Jahr viel stärker in der Diskussion, nachdem es in den letzten Jahren eigentlich eine relativ geringe Rolle gespielt hat“, sagt Felix Hüfner, Chefökonom der UBS in Deutschland.