Probleme werden zum Dauerzustand
Von Stefan Reccius, Frankfurt
Die nächste Hiobsbotschaft kam am Donnerstag aus Eisenach: Der Rüsselsheimer Autobauer Opel, Tochter des französischen Stellantis-Konzerns, verkündete, sein dortiges Werk bis Jahresende zu schließen – wenn nicht länger. Auslöser ist der weltweite Mangel an Halbleitern. Monatelange Kurzarbeit für die 1300 Beschäftigten und ein Produktionsstopp für den dort gefertigten Geländewagen Grandland sind die Folgen.
Der deutsche Autobauer ist mit seiner Entscheidung in guter Gesellschaft. Die Chip-Engpässe haben inzwischen kolossale Auswirkungen auf die gesamte Autobranche. Das Beratungsunternehmen Alix Partners bezifferte die Umsatzeinbußen für dieses Jahr auf 210 Mrd. Dollar, weil zu erwarten sei, dass 7,7 Millionen Fahrzeuge weniger als gedacht von den Bändern laufen. Für Aufsehen sorgten die Zahlen, weil Alix Partners ihre Schätzungen im Vergleich zu Mai nahezu verdoppelte. Der britische Datendienstleister IHS Markit ist für dieses Jahr mit einem zu erwartenden Produktionsminus von 5 Millionen Autos (6,2%) nicht ganz so pessimistisch, dafür ist die Abwärtsrevision für das kommende Jahr umso verheerender: 2022 ist demnach mit Produktionseinbußen von 9,3% zu rechnen, was circa 8,5 Millionen Autos entspricht. Auch 2023 müssen sich Autobauer und Anleger laut IHS Markit auf Nachwirkungen in der Größenordnung von einer Million weniger produzierten Autos gefasst machen.
Längst alarmieren die Entwicklungen auch die Politik. Die US-Regierung hat ein Subventionspaket über 52 Mrd. Dollar auf den Weg gebracht, um Entwicklung und Produktion von Halbleitern in den USA auszubauen. Vor wenigen Tagen wurde zudem bekannt, dass Washington in einem ungewöhnlichen Schritt detaillierten Einblick in die Lieferketten bekommen will: Hersteller und Abnehmer von Halbleitern sowie Zwischenhändler sollen Daten über Bestände, Nachfrage und Liefersituation zur Verfügung stellen. Sollte das Vorhaben nicht freiwillig funktionieren, erwägt die US-Regierung den Einsatz eines Sicherheitsgesetzes aus dem Kalten Krieg, um Firmen zur Informationsweitergabe zu verpflichten.
Fabriken in Vietnam zu
Mitunter lastet auch die Pandemie selbst noch auf den Geschäften. Teilweise sind ganze Branchen betroffen. Gravierend ist die Lage in der Schuh- und Sportartikelindustrie. In Vietnam sind seit Wochen oder gar Monaten Fabriken von Nike, Adidas und Puma geschlossen, weil sich das Land wegen einer heftigen Infektionswelle im Lockdown befindet. Nike lässt fast die Hälfte ihrer Schuhe in Vietnam fertigen, bei Adidas sind es 40%, Puma beziffert den Anteil Vietnams an ihrer Produktion auf 15%. Die Firmen fürchten nun sogar ums Weihnachtsgeschäft.
Stahl, Aluminium, Kupfer, Silizium und Holz, Verpackungen, Elektronikteile, Kunststoffe und chemische Komponenten: Der Materialmangel bei Rohstoffen und Vorprodukten geht weit über die Halbleiter-Industrie hinaus. Ein wesentlicher Teil des Problems sind die Verwerfungen auf den Weltmeeren. Seit Monaten sind Frachtcontainer dermaßen knapp, dass sich die Frachtpreise vervielfacht haben. Mit baldiger Besserung rechnen Experten nicht. Die Nachfrage ist unvermindert hoch, und gerade in China hat der Containerumschlag im September weiter angezogen, wie der einschlägige Index des RWI und des Instituts für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL) zeigt. Zudem kommen die Hersteller mit der Produktion zusätzlicher Container und Frachtschiffe nicht so schnell hinterher.
In Europa kommt obendrein der akute Engpass auf dem Gasmarkt hinzu. Seit Jahresbeginn haben sich die Gaspreise für Unternehmen in der Eurozone mehr als verdreifacht. Die Gasspeicher in der Europäischen Union sind zu weniger als drei Vierteln gefüllt. „Normal wären kurz vor Ende der Auffüllphase fast 90%“, konstatieren die Volkswirte der Commerzbank. Der norwegische Konzern Equinor hat zusätzliche Lieferungen angekündigt. Trotzdem dürften die Engpässe Monate anhalten.