Joachim Nagel

„Unser Job ist noch nicht erledigt“

Der überraschend deutliche Rückgang der Inflation im Euroraum über den Jahreswechsel hat Spekulationen befeuert, dass die EZB ihre Leitzinsen weniger aggressiv anheben könnte als avisiert. Die jüngste Sitzung hat das noch verstärkt. Im Interview bezieht Bundesbankpräsident Joachim Nagel klar Position.

„Unser Job ist noch nicht erledigt“

Mark Schrörs.

Herr Nagel, mit Blick auf die EZB-Zinserhöhungen im Jahr 2022 war oft die Rede davon, dass damit „erst die erste Halbzeit“ gespielt sei – im Sinne des Erreichens eines neutralen Zinses, der die Wirtschaft nicht mehr stimuliert, aber auch noch nicht bremst. Und dass es noch eine zweite Halbzeit geben müsse. Nach der erneuten Zinserhöhung um 50 Basispunkte vergangenen Donnerstag – sind wir immer noch am Anfang der zweiten Halbzeit, bereits mittendrin oder sogar schon kurz vor dem Schlusspfiff?

Der Vergleich klingt gut, aber er hinkt. Bei einer geldpolitischen Straffung gibt es keine festen Spielzeiten, nach denen der Schiedsrichter abpfeift. Wir dürfen erst aufhören, wenn sichergestellt ist, dass wir die Inflationsrate im Euroraum auf unsere mittelfristige Zielrate von 2% zurückbringen. Die Inflation ist zuletzt zwar zurückgegangen. Das ist erfreulich. Sie bleibt aber vorerst immer noch viel zu hoch. Der Rückgang auf 8,5% im Januar ist von einigen fast schon gefeiert worden. Das kann ich nicht nachvollziehen.

Der Hintergrund der Frage ist, dass nach den Ankündigungen von vergangener Woche einige Beobachter schon spekulieren, dass bereits nach der avisierten weiteren Zinserhöhung im März um 50 Basispunkte Schluss sein könnte mit Zinserhöhungen – spätestens aber im Mai bei einem Einlagensatz von dann 3,25%.

Zunächst einmal: Wir haben mit dem Zinsschritt vergangene Woche bereits eine Zinserhöhung um weitere 50 Basispunkte für März avisiert. Das ist ein starkes Bekenntnis zu einer konsequenten Geldpolitik. Nach aktuellem Stand sehe ich aber nicht, dass mit dem Zinsschritt im März unsere Arbeit getan ist: Wir müssen meines Erachtens die Zinsen darüber hinaus anheben, um die notwendige Bremswirkung zu erreichen, mit der wir die Inflation zügig und nachhaltig auf 2% zurückführen. Wenn wir zu früh nachlassen, besteht die große Gefahr, dass sich die Inflation verfestigt. Wie genau wir weiter vorgehen, darüber werden wir im März mehr wissen. Dann haben wir neue Daten und die neuen Projektionen der EZB-Fachleute.

Das heißt, auch nach der neuerlichen Anhebung sind die Zinsen noch nicht restriktiv?

Der Einlagenzins liegt nun bei 2,5%. Wegen der weiter viel zu hohen Inflation sind die kurzfristigen Realzinsen noch immer deutlich negativ. Bei aller Unsicherheit: Für mich sieht das nicht nach restriktivem Bereich aus.

Und das bedeutet auch, dass der Einlagenzins eher in Richtung 4% steigen muss, weil 3,0% oder auch 3,25% nicht ausreichen?

Aus meiner heutigen Sicht braucht es weitere signifikante Zinserhöhungen. Ich finde es aber richtig, dass wir Schritt für Schritt vorangehen. Denn es gibt viele Unbekannte. Die Energiepreise sind zum Beispiel sehr volatil. Das Ende der Lockdown-Maßnahmen in China kann bei den Lieferketten Entspannung bringen, aber über die Rohstoffpreise die Inflation erhöhen. Auch die weitere Lohnentwicklung behalten wir im Auge. Die größte Unbekannte ist aber natürlich der Krieg Russlands. Es wäre jedenfalls gefährlich zu meinen, dass wir jetzt schon durch sind und das Inflationsproblem erledigt ist. Die Inflation ist noch nicht überwunden.

Einige Ihrer Ratskollegen haben gesagt, dass die Zinsen mindestens so lange steigen müssen, wie die Kerninflation anzieht.

Die Kernrate ist ein wichtiger Indikator für die Geldpolitik. Sie spiegelt die Preisentwicklung ohne die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise wider und hilft uns, die weitere Entwicklung der Verbraucherpreise besser abzuschätzen. Und die Kernrate zeigt derzeit, dass sich die Inflation immer mehr durch die Wirtschaft frisst und an Breite gewinnt. Das kann uns nicht gefallen. Wir dürfen jetzt keinesfalls nachlassen, auch wenn Energie zuletzt billiger geworden ist.

Wie sehr stört es Sie denn da, dass die Marktteilnehmer den Signalen mitunter wenig Glauben schenken? Teilweise wird sogar schon auf Zinssenkungen in diesem Jahr spekuliert, wodurch sich die Finanzierungsbedingungen lo­ckern – was die Zinserhöhungen teils konterkariert.

Niemand sollte unterschätzen, wie ernst es dem EZB-Rat damit ist, die Inflation rasch wieder auf 2% zu bringen. Ich würde dringend raten, das jüngste Statement als das zu interpretieren, was es ist: eine robuste Ansage, die über die März-Sitzung hinausweist. Wir haben Preisstabilität noch lange nicht erreicht, unser Job ist noch nicht erledigt. Zinssenkungen stehen für mich auf absehbare Zeit überhaupt nicht auf der Agenda.

Gilt das umso mehr, als es künftig wieder eine strukturell höhere Inflation geben könnte – etwa wegen De-Globalisierung, Dekarbonisierung und Demografie?

Da ist in der Tat Vorsicht geboten. Es ist nicht auszuschließen, dass wir über diese Entwicklungen in Zukunft mit einem strukturell höheren Inflationsdruck zu rechnen haben. Umso mehr ist die Geldpolitik gefordert, stabile Preise zu sichern.

So mancher plädiert da dafür, die Inflationsziele anzuheben.

Die Idee gibt es immer wieder, aber ich halte davon absolut nichts. Nach Gutdünken am Zielwert der Inflationsrate zu schrauben, würde die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken untergraben – und dadurch der Preisstabilität schaden.

Im März soll jetzt auch der Abbau der durch die Anleihekäufe stark aufgeblähten Bilanz des Eurosystems beginnen, namentlich des Bestands beim älteren Anleihekaufprogramm APP. Wie wohl fühlen Sie sich da? Das ist in der Tat ganz neues Terrain.

Die 15 Mrd. Euro Bilanzabbau pro Monat werden die Märkte gut verkraften können. Wenn die Inflation so hoch ist und wir die Zinsen anheben, können wir die Anleihebestände nicht unverändert lassen.

Und nach Juni wird das Tempo des Bilanzabbaus dann erhöht?

Erst einmal müssen wir jetzt Erfahrungen sammeln. Aber ich plädiere dafür, dass wir uns rechtzeitig anschauen sollten, wie stark wir das Abbautempo ab Juli erhöhen können. Die 15 Mrd. Euro pro Monat dürften da nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Bei den jetzt beschlossenen Modalitäten zum Bilanzabbau sticht hervor, dass im Bereich der Unternehmensanleihen die verbleibenden Reinvestitionen stärker auf Emittenten mit einem besseren Beitrag zum Klimaschutz ausgerichtet werden sollen.

Wir haben als Eurosystem immer wieder klargemacht, dass wir den Klimawandel in Zukunft noch ernster nehmen müssen. Ich halte den jetzigen Beschluss für ein starkes Zeichen dafür, dass wir im Rahmen unseres geldpolitischen Mandats einen Beitrag zu den Klimazielen leisten.

Aber birgt eine solche „grüne Geldpolitik“ nicht enorme Gefahren? Die eingeleitete Zinswende wird teilweise auch scharf kritisiert, weil sie Investitionen in die grüne Transformation erschwere.

Als Zentralbank ist und bleibt unser vorrangiges Ziel, Preisstabilität herzustellen. Nachhaltigkeitsaspekte werden von uns berücksichtigt, soweit sie mit diesem vorrangigen Ziel vereinbar sind. Natürlich sitzt die Politik beim Klimaschutz im Fahrersitz. Als Zentralbank können wir aber auch Impulse für andere Marktteilnehmer geben. Und das tun wir.

Ein anderes viel diskutiertes Thema beim Bilanzabbau sind die ­drohenden Verluste, die wegen der hohen Anleihebestände und der raschen Zinswende auf die Zentralbanken zukommen. Wie gefährlich ist das für die EZB?

Die Bundesbank hat in den vergangenen Jahren genau aus dem Grund Rückstellungen gebildet und dafür teilweise auch Kritik abbekommen. Jetzt zeigt sich, dass wir richtig gehandelt haben. Die Bundesbank und andere haben darauf hingewiesen, dass umfangreiche Wertpapierkäufe mit Risiken einhergehen. Eines der Risiken tritt ein, wenn die Zinsen steigen. Die Auswirkungen auf unsere Ertragslage dürfen uns aber nicht davon abhalten, die Geldpolitik zu machen, die wir aus Sicht der Preisstabilität für nötig halten. Und sie werden uns auch nicht abhalten.

Wie schlimm kommt es denn jetzt für die Bundesbank?

Für das abgelaufene Geschäftsjahr 2022 gibt es noch keine größeren Auswirkungen. Die Zinserhöhungen haben ja auch erst Mitte 2022 eingesetzt. In diesem und den nächsten Geschäftsjahren haben wir dann aber erhebliche finanzielle Belastungen zu tragen. Sollten die Belastungen die Rückstellungen übersteigen, werden Verlustvorträge gebildet. Bereits in den 1970er Jahren gab es vorübergehend Verlustvorträge. Die Bundesbank kommt damit zurecht.

Und Sie sorgen sich auch nicht um Folgen für die Unabhängigkeit?

Ich sehe das nicht als Gefahr für die Unabhängigkeit der Bundesbank. Entscheidend ist, dass wir unsere Geldpolitik auf stabile Preise ausrichten, auch wenn das unsere Ertragslage vorübergehend belastet.

Vergangene Woche hat der EZB-Rat sehr explizit vor einer zu expansiven Fiskalpolitik gewarnt, die die Inflation anheizen und den EZB-Job erschweren könnte. Gilt das auch für Deutschland?

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist deutlich besser als befürchtet. In diesem Jahr könnte die Wirtschaft in etwa stagnieren, anstatt in eine Rezession zu fallen. Eine „harte Landung“ sehe ich nicht. Das bedeutet, dass möglicherweise auch größere fiskalische Spielräume entstehen. Dann wäre es zu begrüßen, wenn die Regierung diese nicht für zusätzliche Programme nutzen würde, die die Inflation ankurbeln könnten.

Sind Sie auch für die Inflationsentwicklung in Deutschland zuversichtlicher als noch vor Wochen?

Bislang sind wir davon ausgegangen, dass im Jahresschnitt eine Sieben vor dem Komma steht. Wenn man die aktu­ellen Zahlen nimmt, kann es sein, dass man womöglich irgendwo zwischen 6% und 7% landet. Der zugrunde liegende Preisdruck in der Wirtschaft ist aber immer noch stark. In der mittleren Frist sehe ich derzeit immer noch recht hohe Inflationsraten.

Teilen Sie die Sorge über eine De-Industrialisierung Deutschlands infolge der Energiekrise?

Es gibt sicher Einzelfälle. Aber einen generellen Trend zur De-Industrialisierung kann ich nicht erkennen. Ich bin überzeugt, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland sehr stark ist. Die Unternehmen und ihre Beschäftigten haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie sich sehr gut an neue Bedingungen anpassen können. Darauf setze ich auch jetzt.

Lassen Sie uns zum Schluss noch zu einigen europäischen Themen kommen: Vergangene Woche hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für eine Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA) vorgelegt. Was halten Sie davon?

Natürlich kann man diskutieren, ob das US-Gesetz protektionistische Elemente enthält, die uns als Europäern nicht gefallen. Ich denke, da ist noch einiges zu erreichen in Verhandlungen mit der US-Regierung. Das US-Gesetz ist aber auch ein Ansporn für die Unternehmen und bringt uns in Europa dazu, enger zusammenzurücken. Wir brauchen sicher keinen Subventionswettlauf. Aber jetzt ist die Zeit, bei der Kapitalmarktunion voranzukommen und international konkurrenzfähiger zu werden. Konkrete Ansätze gibt es genug – ob bei Verbriefungen oder bei Green Finance. Das US-Gesetz ist sicher eine Herausforderung, aber auch eine Chance für Europa.

Eine Herausforderung ist auch die Reform der EU-Fiskalregeln.

Ganz klar: Die Reformideen der EU-Kommission haben mich bisher enttäuscht. Das Ziel stringenter und einfacher Regeln würde verfehlt. Die Vorschläge bedeuten im Gegenteil mehr Komplexität und mehr Ermessensspielraum. Ich wünsche mir noch weitere Arbeiten daran. Denn wir brauchen bindende Regeln, um die Anfälligkeit der Volkswirtschaften über die hohen Schulden zu reduzieren. Solide Staatsfinanzen sind eine wichtige Grundlage für stabile Preise.

Viel Arbeit ist auch beim digitalen Euro nötig. In der Politik scheint wegen der Komplexität die Euphorie etwas verflogen. Bleibt es beim Zeitplan, dass im Herbst die Entscheidung fällt, das Projekt zu finalisieren?

Das Projekt ist ohne Frage komplex. Aber der Zeitplan für die Entscheidung steht. Drei Punkte möchte ich unterstreichen: Es geht hier nicht um einen „gläsernen Bürger“. Und es geht uns auch keineswegs darum, das Bankengeschäft zu ersetzen. In meinen Augen benötigen wir in einer zunehmend digitalisierten Welt den digitalen Euro – als Ergänzung zum Bargeld. Ein ganz anderes Thema sind private Krypto-Token. Wir sprechen hier bewusst nicht von Währungen. Das Thema macht mir Sorgen.

Was meinen Sie da genau?

Derzeit erscheinen die Risiken in unserem Verantwortungsbereich zwar überschaubar. Aber das kann sich schnell ändern. Und wir dürfen dabei nicht übersehen: Der Markt ist intransparent. Hier steckt viel Geld, das zum Teil aus dubiosen Quellen kommt und womöglich auch in falsche Kanäle geht. Es kann für Verbrechen missbraucht werden, zum Beispiel für Geldwäsche und Terrorfinanzierung. Als staatliche Institutionen kann uns das nicht egal sein.

Und das heißt konkret?

Die Diskussion darüber nimmt gerade an Fahrt auf. Die Optionen bewegen sich zwischen Regulieren, Eindämmen oder, falls die Probleme regulatorisch nicht zu lösen sind, möglicherweise sogar Verbieten von Krypto-Token. Sowohl bei der Regulierung als auch bei der Eindämmung von Krypto-Token ist bereits einiges erreicht. Die neu aufgeflammte Diskussion dreht sich vor allem darum, ob dies ausreicht.

In den USA gibt es bereits Forderungen nach einem Verbot.

So oder so: Wichtig wäre eine globale Lösung.

Das Interview führte

BZ+
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