Warnsignal, aber kein Verkaufssignal
Christopher Kalbhenn
Von , Frankfurt –
Mit Nervosität blicken die Marktteilnehmer auf die US-Zinsstrukturkurve. Vom Ende des ersten Quartals bis zum 4. April lag die Verzinsung zweijähriger amerikanischer Staatsanleihen auf Schlussbasis durchgängig über der Rendite ihres zehnjährigen Gegenstücks. Andere Teile der Zinskurve waren bereits zuvor invertiert (Renditen kürzerer Laufzeiten steigen über die Verzinsungen längerer Laufzeiten), aber die 10/2-Jahre-Inversion ist von besonderer Brisanz. Sie ist historisch ein sehr zuverlässiger Indikator für eine bevorstehende Rezession, den zehn zurückliegenden Rezessionen in den Vereinigten Staaten ging ohne Ausnahme eine 10/2-Jahre-Inversion voraus.
Aktienschwäche befürchtet
Marktteilnehmer befürchten, dass damit nach dem Schock durch den Ukraine-Krieg eine weitere Aktienmarktabschwächung folgen könnte. Denn auf eine Rezession ist der Markt noch nicht richtig vorbereitet. Die Gewinnschätzungen für das laufende Jahr beginnen angesichts der Belastungen durch den Krieg zwar bereits zu bröckeln, die Konsensschätzung für den aggregierten Gewinn je Aktie des Dax befindet sich aber immer noch in der Nähe der sehr hohen Niveaus, die vor dem Kriegsausbruch Bestand hatten. Eine Rezession würde erhebliche zusätzliche Abstriche notwendig machen, deutlich niedrigere Gewinnschätzungen würden in dem aktuellen Umfeld steigender Zinsen die relative Attraktivität von Aktien spürbar vermindern.
Die Zinskurveninversion ist ein ernstzunehmendes Warnsignal. Allerdings ist aus mehreren Gründen davon abzuraten, allein mit Blick auf die Inversion übereilt zu handeln und die Portfolios hastig auf Rezession umzustellen. So ist noch unklar, ob die zweijährige US-Rendite nachhaltig und deutlicher über die zehnjährige steigen wird. Am Dienstag und Mittwoch lag die zehnjährige Rendite wieder über der zweijährigen, deren Vorsprung war an den Tagen zuvor zudem nur hauchdünn.
Auch der Blick in die Vergangenheit spricht gegen sofortigen Handlungsbedarf. Laut einer Studie von J.P. Morgan hat es in sieben Fällen, in denen es seit 1967 zu einer 10/2-Jahre-Inversion gekommen ist, bis zu zwei Jahre und im Durchschnitt 16 Monate gedauert, bis eine Rezession kam. Wichtig aus Sicht der Anleger: Der Aktienmarkt hat sich nach der Inversion in der Regel positiv entwickelt. Bis zum danach erreichten Hoch dauerte es bis zu 20 und im Durchschnitt elf Monate bis zum anschließenden Hoch des S&P 500. Ausnahme war 1973. In diesem Fall hatte der Index sein Hoch kurz vor der Inversion gesehen. Der durchschnittliche Anstieg des Index vom Zeitpunkt der Inversion bis zum Hoch belief sich auf 15%. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die UBS. Eine 10/2-Jahre-Inversion sei kein Verkaufssignal für Investoren. Seit Mitte der 1960er Jahre habe der S&P 500 in den zwölf Monaten im Anschluss an eine Inversion durchschnittlich um 8% zugelegt.
J.P. Morgan und UBS verweisen zudem auf Besonderheiten der aktuellen Gesamtlage, die ihrer Meinung nach die Signalwirkung einer Zinskurveninversion in Frage stellen beziehungsweise eine zeitnahe Inversion möglicherweise verhindern könnten. Die Schweizer Großbank sieht ein erhöhtes Risiko eines Fehlalarms durch die finanzielle Repression des zurückliegenden Jahrzehnts. Die Renditen langlaufender US-Staatsanleihen seien durch das hohe Volumen der von der Fed und anderen Zentralbanken gehaltenen Anleihebestände gedrückt worden. Es sei möglich, dass das Quantitative Easing Zinskurveninversionen wahrscheinlicher gemacht und damit ihre Prognosekraft reduziert habe.
Auch J.P. Morgan verweist auf die außergewöhnliche geldpolitische Situation. Normalerweise werde die Zinskurve flacher, wenn die Fed die Zügel anziehe. Dieses Mal bestehe jedoch die Besonderheit, dass sich die Zinskurve zum Auftakt der restriktiveren Geldpolitik bereits dramatisch verflacht habe. Das bevorstehende Quantitative Tightening (Reduzierung der Wertpapierbestände der Notenbank) werde möglicherweise die gegenteilige Wirkung haben. Das US-Haus geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass es erst im zweiten Quartal 2023 zur Inversion kommen wird. Gegen ein Rezessionssignal spricht J.P. Morgan zufolge außerdem die Tatsache, dass ein anderer Teil der Zinskurve, der Renditeabstand zwischen der dreimonatigen und der zehnjährigen Laufzeit, in der Vergangenheit ebenfalls ein guter Indikator für eine bevorstehende Rezession, nicht geschrumpft ist, sondern sich im Gegenteil in den zurückliegenden Monaten sogar kräftig ausgeweitet hat und derzeit über seinem historischen Durchschnitt liegt. Außerdem sei eine flache bis invertierte Zinskurve historisch ein gutes Zyklussignal gewesen, weil sie angezeigt habe, dass die Finanzierungskonditionen sehr restriktiv geworden seien. Dies sei derzeit aber nicht der Fall. Die Realzinsen seien nach wie vor sehr akkommodierend, was gegen eine Rezession spreche. Bei früheren Inversionen hätten sie bei 200 Basispunkten gelegen, derzeit seien sie negativ. Negative Realzinsen seien üblicherweise nicht der Ausgangspunkt einer Rezession.
Letztlich ist aus Investorensicht aktuell weniger relevant, wie sich die Zinsstrukturkurve entwickelt. Kurzfristig entscheiden der Ukraine-Krieg und die von diesem zusätzlich verstärkten Inflations- und Zinsrisiken über Wohl und Wehe der Aktienmärkte. Wegen der drohenden 10/2-Jahre-Inversion das Portfolio im Hinblick auf eine Rezession umzubauen, würde nach hinten losgehen, sobald sich – derzeit leider nicht abzusehende – Anzeichen für ein Ende des entsetzlichen Krieges einstellen würden.
Was auf Zinskurveninversionen folgte | |||
Datum der Inversion (10/2 Jahre) | Monate bis zum Hoch des S&P500 | Monate bis zur Rezession | Veränderung des S&P500 bis zum Hoch (%) |
Dezember 1967 | 11 | 24 | 14 |
März 1973 | −2 | 8 | −4 |
August 1978 | 18 | 17 | 13 |
Dezember 1988 | 19 | 19 | 34 |
Februar 2000 | 2 | 13 | 8 |
Januar 2006 | 20 | 23 | 22 |
August 2019 | 6 | 6 | 18 |
Durchschnitt | 11 | 16 | 15 |
Quelle: J.P. Morgan Börsen-Zeitung |