Mit ESG-Richtlinien das Kapital zähmen
Im Interview: Christiane Benner
Mit ESG-Richtlinien das Kapital zähmen
Die neue Chefin der IG Metall verteidigt die Industriepolitik der Bundesregierung, beklagt aber einen fehlenden Masterplan. Bei Hedgefonds in Unternehmen stellt sie ein Umdenken fest. Und im Zuge der Digitalisierung fordert sie einen neuen Anlauf für Mitarbeiterbeteiligung.
Das Interview führte Stephan Lorz.
Frau Benner, die IG Metall hat zuletzt relativ zügig und vergleichsweise geräuschlos ein Verhandlungsergebnis in der Eisen- und Stahlbranche erzielt. Wie wichtig ist es für Sie, dass es nicht gleich immer zum großen Schlagabtausch kommt, wie zuletzt wieder von der Lokführergewerkschaft GDL angezettelt?
Es war bei uns alles andere als zügig und geräuschlos! Wir hatten schon fünf Verhandlungsrunden gebraucht und 24-Stunden-Warnstreiks durchgeführt, bevor wir zu einem Ergebnis gekommen sind. Jetzt haben wir mit der vereinbarten Lohnerhöhung von 5,5%, der Einmalzahlung von zusammengenommen 3.000 Euro und dem Einstieg in das Thema selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung ein gutes Paket hingestellt.
Andere Tarifeinigungen sind bis in den zweistelligen Bereich vorgedrungen. Ist die IG Metall hier zu früh eingeknickt?
Na ja, in manche Rechnungen fließt die Einmalzahlung ein und die Tarifverträge haben längere Laufzeiten. Wir hatten schon im Sommer 2022 6,5% mehr für Stahl erkämpft, plus jetzt die 5,5%. Die Arbeitgeber hatten zunächst nur 3,5% angeboten. Wir haben nun, wie ich finde, einen guten Kompromiss gefunden. Denn da gibt es die Unternehmen, die prall gefüllte Auftragsbücher haben, und jene, denen es gar nicht gutgeht. Verantwortungsvolle Tarifpolitik kalkuliert das mit ein.
Aber Sie hatten 8,5% gefordert. Ein weiterer Streik hätte die Einigung vielleicht mehr in diese Richtung getrieben?
Streiks sind eine letzte Möglichkeit, wenn sich am Verhandlungstisch nichts bewegt. Jede Gewerkschaft muss für sich entscheiden, wie und wann sie zum Instrument Streik greift. Es ist ein verfassungsrechtlich geschütztes Instrument. Es tariert das natürliche Ungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus. Mit unserem bisherigen Kurs sind wir aber immer gut gefahren. Streik ist für uns wirklich nur ein Instrument, wenn Verhandeln absehbar keine Ergebnisse bringt und mehr Druck auf die Arbeitgeber aufgebaut werden muss.
Aber Spartengewerkschaften wie die GDL oder die Piloten scheinen hier mehr für sich rauszuholen – und auch leichtfertiger mit dem Instrument Streik umzugehen, zumal die Schmerzen der Kunden, die an den Bahnhöfen und Flughäfen betroffen sind, den Druck auf die Arbeitgeber zusätzlich verstärkt.
Ich kann und will nur für die IG Metall sprechen, da gilt: Es geht nicht nur darum, was maximal rauszuholen ist. Wichtig ist auch eine solidarische Tarifpolitik, welche die Belegschaft mehr eint als spaltet. Gute Ergebnisse für alle – das schaffen wir! Schauen Sie die IG Metall-Abschlüsse der letzten zehn, zwanzig Jahre an – das ist mehr als eine Momentaufnahme. Da liegen wir ganz vorn, unsere Politik bewährt sich. Am klügsten wäre es, wenn man möglichst viele Interessen unter dem Dach des DGB vereinen könnte und nicht Spartengruppen groß werden lässt.
Aber selbst innerhalb der DGB-Gewerkschaften sind die Interessen ja auch nicht immer gleichgerichtet.
Sicher, auch wir als IG Metall haben unsere Spannungsfelder. Ich sage immer: Unsere Tarifpolitik muss für Band und Büro gleichermaßen wirken. Auch Arbeitszeitregeln müssen so austariert werden, dass der Schichtarbeiter genauso davon profitiert wie der Mitarbeiter in Gleitzeit. Dafür braucht es viel Binnendiplomatie und gute Betriebsräte. Jedenfalls hat unsere Politik auch dazu geführt, dass wir jüngst wieder viele neue Gewerkschaftsmitglieder, auch aus dem Angestelltenbereich, gewinnen konnten.
Die zuletzt sehr hohen Tarifforderungen sind ja auch Ausdruck einer massiven Krise, in der sich die deutsche Wirtschaft befindet: Teuerungsschub auf allen Ebenen, Rezession, Energiewende, Deglobalisierung. Sie haben Einblick in die Binnendebatte der Unternehmen: Warum zeigt sich der Standort nicht mehr so robust wie früher?
Es hat sich über die Jahre großer Veränderungsdruck aufgebaut. Um den erforderlichen großflächigen Umbau unserer Industriegesellschaft erfolgreich angehen zu können – Klimaneutralität, Digitalisierung, Qualifizierung – brauchen wir nun eine gute industriepolitische Flankierung. Vor diesem Hintergrund ist das jüngste Vorgehen der Bundesregierung – ihre Antwort auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds – eine ziemliche Katastrophe. Denn damit wird jeder Schwung aus der wirtschaftlichen Entwicklung genommen; sie verunsichert die Bürger, die sich auf Klimainvestitionen eingelassen haben; und es nimmt ihnen jede Planungssicherheit. Warum sollten sie sich künftig auf Förderversprechen der Bundesregierung einlassen, wenn schon beim ersten Windstoß feste Zusagen wieder kassiert werden? Das wird Einfluss haben insgesamt auf die Förderpolitik der Politik und ihre Fähigkeit, Entwicklungen anzustoßen und zu steuern.
Sind diese Themen jetzt nur virulent geworden, weil sie zu lange liegen gelassen wurden in den vergangenen Regierungsjahren? Oder weil tatsächlich eine neue Wucht dahintersteckt?
Beides. Bildungspolitik und Investitionen in unsere Infrastruktur wurden in der Tat über viele Jahre verschleppt. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Und die anderen Veränderungsprozesse wurden zuletzt durch die gleichzeitigen Krisen stark beschleunigt: So stellte der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine die Energiefrage völlig neu. Und die Klimaerwärmung verlangt immer radikalere Antworten. Immerhin wollen wir 2045 klimaneutral werden, steigen wir bis 2035 aus dem Verbrennermotor aus. Wir sind zudem Verpflichtungen eingegangen, die uns auf einen viel steileren Pfad der Klimaneutralität zwingen. Und um das auf den Weg zu bringen sowie die Bürger und die Unternehmen dafür einzunehmen, brauche ich ein gutes industriepolitisches Konzept, das fördert, fordert und sozial austariert.
Warum muss überhaupt ein industriepolitisches Konzept her, wenn man dem Wandel auch durch Preissignale und den Markt – ich denke da an die CO2-Abgabe – auf die Sprünge helfen könnte?
Die Unternehmen brauchen für die Transformation schlicht Planungssicherheit. Wir benötigen Investitionen in das Neue, müssen aber gleichzeitig mit dem Alten zunächst weitermachen. Bezogen auf die Autoindustrie: Wenn ich nicht erfolgreich weiter Verbrenner verkaufe, werde ich auch keine Investitionssummen haben für die Elektromobilität. Der Wandel ist ohnehin schon schwierig genug. Die großen Autohersteller kriegen das noch einigermaßen gestemmt. Aber die Situation der Zulieferer ist oft dramatisch. Sie brauchen Hilfestellungen.
Noch einmal: Warum über Subventionen und nicht über den Markt?
Weil es nicht funktionieren würde. Zudem wird in vielen anderen Ländern ja schon längst kräftig subventioniert. Die Chinesen unterbieten schlicht die Marktpreise. Und die USA verbilligen mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ebenfalls die Produktion und fördern massiv neue Investitionen in neue Technologien. Lasse ich nun in Deutschland nur den Markt wirken, dauert das auch schlicht zu lange, bis sich die gesamte Wirtschaft darauf eingestellt hat und in eine neue Richtung bewegt – und bis dahin haben die hochsubventionierten Produkte aus China und den USA unsere Hersteller längst verdrängt, weil die Abnehmer natürlich das kostengünstigste Produkt kaufen werden. Das war schon so bei der Solarproduktion in Deutschland vor vielen Jahren: Eine technisch hochmoderne Fotovoltaikproduktion wurde hochgezogen, dann kamen die Chinesen, unterboten alle Preise und booteten die deutschen Unternehmen aus.
Und diese Entwicklung befürchten Sie auch für E-Autos und grünen Stahl?
Ja, wir spüren das heute schon und auch die heimische Wirtschaft denkt schon um: Deutsche Unternehmen investieren teilweise lieber im Ausland statt in der Heimat. Und ausländische Produkte kommen günstig auf unseren Markt und verdrängen einheimische Güter. Deshalb brauchen wir eine strategische Industriepolitik und benötigen auch einen Brückenstrompreis, bis die Transformation sich selber tragen kann. Und kommt der Brückenstrompreis nicht, so prophezeie ich, dass viele kleinere energieintensive Unternehmen schon 2024 pleitegehen werden.
Aber mit Subventionen konserviere ich doch eher das Bestehende und halte den Wandel auf.
Nein, keinesfalls. Ich komme ja aus einer Branche, in der überall starker Wettbewerb herrscht und die über die Jahrzehnte zu Einsparungen oder Umstrukturierungen gezwungen war. Die deutsche Wirtschaft ist aus diesen Phasen immer gestärkt hervorgekommen. Nun geht es ja nur darum, Unternehmen für eine Übergangszeit die große Transformation zu erleichtern, ohne dass sie aus dem Markt fallen. Diese Transformation ist eine ganz andere Größenordnung als die bisher geschulterten Umstrukturierungen. Hier geht es wohlgemerkt um den Umbau der gesamten Volkswirtschaft. Ohne Subventionen bekäme ich auch keine neuen Ansiedlungen von Halbleiterfabriken in Deutschland oder die Fertigung von Batteriezellen, die zum Fundament dieser neuen Wirtschaft gehören.
Wäre es dann nicht besser, die allgemeinen Rahmenbedingungen – auch mit Staatsgeld – zu verbessern, statt einzelne Unternehmen mit Milliardensummen zu unterstützen?
Auch das würde nicht aufgehen. Mit nur marginalen Verbesserungen hole ich keine Halbleiter nach Deutschland. Die würden die Chips weiter aus Taiwan oder China liefern. Um eine widerstandsfähige Lieferkette zu sichern, benötige ich aber eine Fertigung vor Ort. Und das zu verwirklichen ist Aufgabe von Industriepolitik. Nehmen Sie die Batterieproduktion. Noch vor fünf Jahren sprach man von Überkapazitäten in diesem Sektor und die deutsche Industrie wollte nicht investieren. Erst so nach und nach brach sich auch in den Chefetagen der Wirtschaft die Erkenntnis Bahn, dass eine Batterieproduktion in Deutschland für die Autoproduktion die entscheidende Grundlage ist. Wir haben das schon viel früher gesehen und eingefordert.
Letztendlich scheint das aber in einen Wettlauf der Subventionen zu münden. Das kann doch nicht gutgehen?
Doch, der Wettlauf wird enden, wenn der Umbau der Industrie selbsttragend ist. Wenn wir wirtschaftlich wachsen und erfolgreich bleiben durch den Export. Ich möchte wohlgemerkt keine Dauersubventionen. Aber momentan brauchen wir direkte staatliche Investitionen, um auf allen Ebenen ein positives Signal zu senden, damit sich alle Akteure auf die transformatorischen Veränderungen einstellen. Wir sehen ja aktuell, wohin das führt, wenn es keine vorausschauende Strategie gibt: Wir haben Fachkräftemangel, weil es in der Wirtschaft an der nötigen Weitsicht gefehlt hat. Und der Fachkräftemangel hemmt aktuell wie in einem Teufelskreis auch die Transformation, weil es an jenen Akteuren mangelt, welche den Wandel zur klimaneutralen, digitalen Wirtschaft planen, steuern und umsetzen.
Braucht es hier tatsächlich den Eingriff in den Markt? Gerade Knappheiten sollten sich zuverlässig über den Preis regeln lassen.
Gerade bei Fachkräftemangel gilt dies doch offensichtlich nicht. Ein Beispiel: Der Standort Gifhorn der Firma Continental wird bis 2027 geschlossen. Der Wärmepumpenhersteller Stiebel Eltron will Continental-Mitarbeiter übernehmen, andere Unternehmen ebenfalls. Ein damit einhergehendes Qualifizierungsprogramm, staatlich gefördert, macht es möglich. Das Aus von industrieller Produktion und Arbeitslosigkeit wird vermieden – im Gegenteil, es werden nun mehr Fachkräfte gebraucht, als es Beschäftigte gibt. Das ist Transformation konkret. Das müssen wir auch in anderen Regionen machen. Aber dafür brauche ich dann die industriepolitische Perspektive wie Halbleiter-Investitionen in Magdeburg und Dresden, oder die Wolfspeed-Investition im Saarland. Durch die richtige Industriepolitik kann ich den Menschen Perspektiven geben, weil sie sehen, dass Transformation gelingt.
Aber das Geld muss ja irgendwo herkommen. Soll sich der Staat dafür verschulden?
Ja, ganz klar. Denn woher bekommen wir denn sonst die geschätzt 910 Mrd. Euro bis 2050, die wir allein brauchen, um die ökologischen Schäden zu beheben, die bis dahin real werden, wenn wir nichts dagegen tun? Was hinterlasse ich meinen Enkeln? Einen kaputten Planeten oder Schulden? Es ärgert mich, wenn immer wieder gesagt wird, es sei unverantwortlich, der nächsten Generation einen Schuldenberg zu hinterlassen. Ich halte es für verantwortungslos, wenn wir ihnen ein kaputtes Ökosystem hinterlassen! Es geht um unsere Industrie, unseren Wohlstand und unsere Demokratie.
Und nun werden wegen des BVerfG-Urteils auch viele der ökologischen Transformationsausgaben wieder zurechtgestutzt: CO2-Abgabe ohne Klimageld, Wegfall E-Auto-Prämie, Wegfall Subventionen für den Heizungsumbau etc.
Das ist in der Tat extrem schwierig. Aber genauso schmerzlich ist das Versäumnis der Ampel-Koalition, ein Gesamtbild für die Transformation zu zeichnen, einen Masterplan. Der wäre nötig gewesen, um die Menschen für das Vorhaben einzunehmen. Und er hätte auch als Grundlage getaugt für den Transformationsfonds, der dann verfassungsfest hätte installiert werden sollen. Die Investitionen für die Transformation können eben nicht aus dem Regelhaushalt finanziert werden.
Wenn sich Gewerkschaften auch stark in die allgemeine Politik einbringen, ist das für viele Unternehmensführer eher ein rotes Tuch. Wie kommen Sie denn mit Ihren Ansprüchen als deutsche Gewerkschaft mit den Anteilseignern aus?
Ich habe das Privileg, bei Continental und BMW in zwei Aufsichtsräten zu sitzen, bei denen Familien Ankeraktionäre sind und selber viel Verantwortung übernehmen. Bei Continental Schaeffler und bei BMW Klatten und Quandt. Das sind Menschen, mit denen kann ich reden. Wir verstehen uns, auch wenn wir nicht einer Meinung sind. Das ist ein ganz anderes Klima und eine Weitsicht, wie sie leider in vielen anderen Aktiengesellschaften nicht vorhanden sind. Ich hatte zwar noch keine radikale Hedgefonds-Begegnung; aber ich weiß von Kollegen, was da abgeht.
Und was geht da ab?
Alle Handlungen sind allein renditegetrieben – und vielfach nur auf kürzeren Zeithorizont hin konzipiert. Denn solche Investoren wollen schnell Geld machen und mit Gewinn auch wieder aussteigen können. Denken Sie an die Zerschlagung der Software AG. Aber auch mit solchen Investoren gehe ich natürlich in den Dialog. Und ich stelle zudem fest, dass auch dort langsam eine andere Denke einzieht.
Wie meinen Sie das?
Kapitalismus bleibt Kapitalismus und Rendite bleibt Rendite. Aber allein durch die ESG-Richtlinien haben wir neue Ansatzpunkte, um das Kapital etwas zu zähmen. Auch die Hedgefonds müssen die Standards einhalten, und damit ändert sich auch ihr Investitionsverhalten. Ich werde nicht müde, in dieser Szene immer wieder den Wert von Mitbestimmung und sozialer Nachhaltigkeit kundzutun. Und alle müssen entlang der Wertschöpfungskette klimaneutral werden. Das gibt auch uns Gewerkschaften Gestaltungsmacht. Das „S“ in ESG kann dann Tarifbindung heißen oder mehr Diversity oder International Framework Agreements für faire Standards.
Bei manchen großen US-Konzernen wie Tesla oder Amazon kommen Sie da nicht so weit, weil die sich allen gewerkschaftlichen Einfluss vom Leib halten.
Warten Sie mal ab. Wir sind bei Tesla auf gutem Weg. Zudem finde ich gut, wie die EU Rechte von Beschäftigten stärkt, indem sie Plattformen einer stärkeren Regulierung unterwirft. Auch die vereinbarte globale Mindestbesteuerung ist ein Fortschritt. Aber um das nochmal klarzustellen: Es geht uns als Gewerkschaften nicht darum, die Rendite der Investoren abzuschmelzen, das ist ein berechtigtes Interesse von Anteilseignern. Sondern es geht uns immer nur um den fairen Ausgleich aller Stakeholder – also auch der Beschäftigten. Und natürlich müssen verfassungsrechtlich verbriefte Rechte, wie das auf gewerkschaftliche Organisation, jederzeit eingehalten werden.
Der Aktienkurs von Unternehmens ist bisweilen auch Gradmesser für die Investoren.
Aber er ist nicht das allein seligmachende Element. Denn was hatte etwa Continental vom etwas höheren Aktienkurs nach der jüngsten Bekanntgabe von Entlassungen. Der Kurs hat nur kurz nach oben gezuckt. Und was bleibt: eine schlechtgelaunte Belegschaft, und viele gute Leute haben das Unternehmen verlassen.
Andere Branchen müssen keine Entlassungen ankündigen, sondern beklagen vielmehr den Fachkräftemangel. Kommen die verstärkte Digitalisierung und die künstliche Intelligenz also zur rechten Zeit, um einen Teil des Mangels technisch auszugleichen?
Da muss ich etwas Wasser in den Wein schütten. Denn die Nutzung der neuen Technologien und der Digitalisierung ist bisher in der deutschen Wirtschaft nicht so breitflächig, wie gemeinhin erwartet wird. Es fallen zwar viele Daten an, die werden aber nur unzureichend genutzt. Vor allem benötigen wir zuerst neue Fachkräfte, um das digitale Potenzial überhaupt heben zu können.
Liegt die unzureichende Nutzung womöglich auch an einem zu restriktiven Datenschutz?
Denke ich nicht. Man kann die Algorithmen auch so bauen, dass der Datenschutz gewährleistet wird, der Datenschatz aber gehoben werden kann. So können etwa automatische Löschungen eingebaut werden, um Arbeitnehmerrechte zu schützen. Oder man kann verstärkt anonymisieren. Im Gespräch mit dem Betriebsrat wird sich da immer eine Lösung finden lassen, die alle Akteure zufriedenstellt. Wenn es allerdings um das Tracking von Arbeitnehmern in den Betrieben oder Bürgern auf der Straße geht, dann sind wir strikt dagegen. Da geht es mehr um Kontrolle als um Datenschätze.
Wenn Kollege KI oder Roboter künftig mehr zur unternehmerischen Wertschöpfung beitragen als der menschliche Mitarbeiter: Wer bekommt dann den von Robotern und KI erwirtschafteten Lohn?
Digitalisierung und weitere Automatisierung wird zu einer stärkeren Kapitalkonzentration innerhalb der Unternehmen führen, was die Investorenseite begünstigt. Ich bin offen, diesbezüglich den ganzen Bereich der Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen wieder stärker in die Debatte zu bringen. Das ist in den vergangenen Jahren zu wenig geschehen. Denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben ja schließlich die gleichen Interessen, wenn es um den Erfolg des Unternehmens geht.
Mehr zur Mitarbeiterbeteiligung
Zur Person
Die Metallindustrie gilt nach wie vor als das natürliche Habitat von „Malochern“, unwillkürlich assoziiert man dabei das flüssige Metall mit den Männern in den silbernen Schutzanzügen davor oder den Funkenregen, wenn Zerspanungs- und Schleifmaschinen Werkstücke in die richtige Form bringen. Der Vorläufer der Arbeitnehmervertretung der Branche, der IG Metall, startete bereits vor 130 Jahren, als die Metallindustrie eine Männerwirtschaft war. Insofern war es ein Novum, als Christiane Benner 2015 zur zweiten Vorsitzenden gewählt wurde. Im Oktober 2023 rückte sie dann an die Spitze. Es ist ein Zeichen für die Modernisierung der Gewerkschaft und für den Wandel. Längst vertritt sie nicht nur „Blaumänner“, sondern viele Spezialisten, die eher am Rechner arbeiten als an stählernen Kolossen. Das sieht sie auch als ihren Auftrag: die Arbeitnehmervertreter noch weiter in die Digitalisierung zu führen, was mit einer Veränderung der Mitgliederschaft einhergeht. Ihre männlichen Vorgänger haben den Wandel angestoßen, an ihr ist es nun, die IGM auf einen stabilen Entwicklungspfad zu lenken.