Martina Hund-Mejean

„Wir brauchen Vorbilder für Vielfalt in den Chefetagen“

Die ehemalige Finanzchefin des US-Konzerns Mastercard über die Frauenquote in deutschen Vorständen, amerikanische Karrieren und die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen

„Wir brauchen Vorbilder für Vielfalt in den Chefetagen“

Norbert Kuls.

Frau Hund-Mejean, in Deutschland steht ein Gesetzesentwurf für eine Frauenquote in Vorständen vor der Verabschiedung. In Amerika gibt es keine Quote, aber mehr Frauen an der Spitze großer, börsennotierter Unternehmen. Sie waren lange Top-Managerin in Amerika. Warum ist Amerika im Vergleich zu Deutschland weiter?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Ich selbst bin in einer typischen deutschen Mittelstandsfamilie aufgewachsen. Mein jüngerer Bruder und ich wurden völlig gleichbehandelt. Meine Eltern erwarteten, dass wir einen Beruf lernen, zur Universität gehen und den Beruf auch ausüben. Das war in den Familien meiner Freundinnen nicht anders. Aber mit einer Ausnahme sind alle aus dem Berufsleben ausgestiegen, nachdem sie geheiratet und vor allem nachdem sie Kinder bekommen haben. Das war schon seltsam.

Warum war das bei Ihnen anders?

Ich wollte einfach nur Karriere machen und habe gesehen, dass es keine Frauen in den Vorständen deutscher Unternehmen gab. In den Aufsichtsräten gab es schon Frauen, meistens Gewerkschafterinnen. Im Vorstand der Deutschen Bank, wo ich eine Banklehre gemacht hatte, saßen damals aber keine Frauen.

Deswegen sind Sie nach Amerika gegangen?

Ich kannte die USA schon ein wenig und es gab dort im Gegensatz zu Deutschland durchaus Frauen mit Kindern, die Karriere gemacht haben. Solche Vorbilder sind superwichtig für Frauen, um irgendwo einzusteigen und dabei zu bleiben. Dabei ist egal, ob es um Frauen geht, um Afroamerikaner oder um Leute mit asiatischer oder mit lateinamerikanischer Abstammung. Menschen wollen Vorbilder sehen. Deswegen habe ich mich mit 26 Jahren entschieden, einen MBA-Abschluss in den USA zu machen und das dort zum Einstieg in eine Firma zu nutzen.

In den USA waren Vorstandsetagen großer Unternehmen früher auch ein reiner Männerclub. Was hat zu diesem Umbruch geführt?

Die Antidiskriminierungsgesetze der sechziger Jahre spielten eine wichtige Rolle. Und denken Sie an Vorreiterinnen wie die Juristin Ruth Bader Ginsburg, die in den siebziger Jahren vor dem Obersten Bundesgericht Klagen gegen Geschlechterdiskriminierung führte und später dort selbst Richterin wurde. Oder Muriel Siebert, die Ende der Sechziger als erste Frau die Zulassung zum Handel an der New Yorker Börse erhielt. Die sexuelle Revolution war in Amerika sehr prägend. Es gab viele Frauen, die ihre Karrieren sehr ernst genommen haben und die daneben auch irgendwie die Familie organisiert haben. In Deutschland gab es diese Bewegung hin zur Karriere nicht in gleichem Maße.

Aber galt gerade die Wall Street in den 1980er Jahren nicht auch als frauenfeindlicher Ort?

Ich habe im Sommer 1987 für die Investmentbank Merrill Lynch in der Abteilung für Fusionen und Übernahmen gearbeitet. Ich hatte weibliche Vorgesetzte und nicht den Eindruck, dass es Diskriminierung gab. Als Berufsanfängerin habe ich aber wahrscheinlich nicht ganz verstanden, was diese Frauen durchkämpfen mussten. Es gab damals allerdings keine Frauen, die ein M&A-Team für ein großes Unternehmen geleitet haben.

Hat sich das geändert?

Als ich Mastercard im Frühjahr 2019 verlassen habe, haben wir mit ungefähr fünf Banken richtig eng zusammengearbeitet. Bis auf Goldman Sachs wurde kein Team von einer Frau geleitet. Das ist schon traurig.

Wall-Street-Banken achten bei Berufsanfängern inzwischen auf Vielfalt. Viele Frauen und Angehörige von Minderheiten gehen dann aber wegen mangelnder Förderung wieder.

Ich glaube, dass viele Frauen – und auch Männer – nach ein paar Jahren vor allem von diesem wahnsinnigen Marathon im Investment Banking genug haben, von der Arbeit rund um die Uhr. Gerade Frauen fragen sich, ob es nicht andere Firmen gibt, wo sie auch Karriere machen, aber ein normales Leben führen können.

In Deutschland scheint es trotzdem unterschiedliche Vorstellungen von Normalität zu geben. Gehen Frauen in Amerika nach der Geburt eines Kindes nicht schneller wieder zurück in den Job?

Jüngere Mitarbeiterinnen in Deutschland berichten, dass immer noch erwartet wird, dass sie sich ausschließlich ums Kind kümmern, dass sie kritisch angeschaut werden, wenn sie ihr Kind mit vier Monaten in eine Kita geben. Aber auch in Amerika haben Firmen Probleme, Frauen zu halten, wenn sie Kinder bekommen. Wir betreuen daher Frauen speziell während der Elternzeit, halten den persönlichen Kontakt und informieren sie regelmäßig über neue Trends. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass jemand aussteigen möchte, um sich ein paar Jahre allein den Kindern zu widmen. Gerade deswegen ist es so wichtig, Frauen im Aufsichtsrat und im Vorstand zu haben. Wenn es diese Vorbilder nicht gibt, haben sie gar keine Chance, dass Frauen zurückkehren. Frauen müssen sich aber auch klarmachen, dass sie mit einer längeren Pause ein paar Jahre verlieren, in denen ihre Kollegen wichtige berufliche Erfahrungen sammeln.

Ein Argument für die Frauenquote lautet, dass sich ohne gesetzliche Vorgaben nichts an struktureller Benachteiligung ändern wird. Wie sehen Sie das?

Grundsätzlich halte ich von Quoten sehr wenig. Aber ich sehe natürlich auch, dass sich in Deutschland im Vergleich zu den USA wenig geändert hat. Eine Quote ist aber keine einfache Lösung. Um Frauen für Vorstandsaufgaben zu qualifizieren, brauchen sie langfristige Förderung von Nachwuchstalenten. Lange Auszeiten sind dabei hinderlich. Ich habe selbst 20 Jahre lang in Unternehmen sukzessive größere Verantwortung übernommen, bevor ich Vorständin wurde. Diese Zeit ist nötig, gerade in großen Firmen, wo Vorstände einen riesigen Aufgabenbereich haben. Ich bezweifle, dass eine staatliche Regulierung schneller zum Erfolg führt. Es ist daher ganz wichtig, dass wir Frauen in den Unternehmen halten und sie auf Führungsaufgaben vorbereiten.

In Kalifornien gibt es seit kurzem ein Gesetz, wonach unterrepräsentierte Minderheiten im Verwaltungsrat vertreten sein müssen. Gehen die Amerikaner auch in Richtung Quote?

Das wird zunehmend diskutiert und viele meiner Bekannten und Freunde sind dafür. Es gibt eben viele kalifornische Firmen, denen es an Vielfalt im Verwaltungsrat mangelt, obwohl es fraglos genug qualifizierte Leute gibt. Der Gesetzgeber will die Veränderung schneller vorantreiben. Ich bin ein bisschen zwiegespalten. Ich war nie für Quoten, weil ich Ziele immer mit meiner eigenen Leistung erreichen will. Ich weiß aber auch, dass es zu langsam vorangeht.

Sie sitzen in mehreren, vielfältig besetzten Verwaltungsräten großer US-Konzerne. Wie sorgen diese Aufsichtsgremien für Diversität in den Unternehmen?

Beim Lebensversicherer Prudential gibt es für die Vergütung der Vorstände Diversitätsvorgaben, konkrete Messgrößen. Wenn die nicht erreicht werden, ist ein Teil der Vergütung in Gefahr. Wir schauen uns im Verwaltungsrat die Verteilung der gesamten Bevölkerung an, den Anteil von Afroamerikanern, Latinos, von asiatischstämmigen Amerikanern oder Amerikanerinnen. Die Hälfte der Bevölkerung sind natürlich Frauen. Auf dieser Basis erstellen wir Zielvorgaben für die kommenden Jahre. Vielfalt war schon vor mehr als zehn Jahren ein Thema in Verwaltungsräten und es gab auch Messgrößen. Dass manche Firmen – nicht alle natürlich – die Vergütung davon abhängig machen, ist aber eine neuere Entwicklung.

Haben Sie eine Idealvorstellung, wenn es um Vielfalt geht?

Bei Frauen und Männern wäre natürlich eine paritätische Besetzung ideal. Wenn Sie ein Team von zehn Leuten haben, müssen Sie mindestens mit drei Frauen anfangen. Haben Sie nur eine Frau, läuft sie Gefahr, als bösartige Außenseiterin abgestempelt zu werden. Bei zwei Frauen riskieren Sie Konkurrenz untereinander. Erst wenn drei Frauen im Team sind, denkt niemand mehr darüber nach.

Was treibt die Debatte um Diversität in amerikanischen Unternehmen?

Für Firmen wie Mastercard, Colgate-Palmolive oder Prudential war die Frage zunächst: Wer ist unser Konsument? Mastercard muss verstehen, wie Frauen oder die schwarze Bevölkerung mit Zahlungsmitteln umgehen. Für einen globalen Konsumgüterhersteller wie Colgate ist es wichtig zu wissen, ob es kulturelle Unterschiede bei der Nutzung von Zahnpasta oder Kosmetik gibt. Prudential bietet Lebensversicherungen und Fonds für die Altersvorsorge an. Dort gibt es Nachholbedarf bei Afroamerikanern oder Latinos, die traditionell unterversorgt waren. Das macht geschäftlich viel Sinn. Es geht aber auch um die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen. Das ist in den vergangenen Jahren viel wichtiger geworden.

Warum?

Die Regierungsbehörden in den USA haben ihre öffentlichen Aufgaben und das Allgemeinwohl vernachlässigt. Das gilt für Bildung und Gesundheitswesen genauso wie für die Infrastruktur, für Straßen, Brücken, Flughäfen. Firmen sahen sich genötigt, mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, zu Fragen wie Gleichberechtigung Stellung zu nehmen und Maßnahmen zu ergreifen. Das ist der Grund, warum sich Unternehmen in der Diskussion nach dem Tod von George Floyd durch Polizeigewalt im vergangenen Jahr so stark engagiert haben. Das hatte ich so auch noch nicht erlebt.

Das Interview führte