Klimapolitik im Zwiespalt
Sein erstes Jahr als grüner Bundeswirtschaftsminister wird sich Robert Habeck wohl anders vorgestellt haben: Statt sich auf die grüne Transformation der Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und den Ausbau der erneuerbaren Energien zu fokussieren, musste der Minister den raschen Bau eines Terminals für flüssiges Erdgas (LNG) ebenso als Erfolg verkaufen wie den Gas-Liefervertrag mit Katar, das nicht nur wegen der Missachtung der Menschenrechte im Kontext der Fußballweltmeisterschaft, sondern aktuell auch wegen des Korruptionsskandals im Europäischen Parlament für Negativschlagzeilen sorgte. Ausgerechnet LNG, das großteils durch umweltschädliches Fracking gewonnen wird und zudem aus Methan besteht, einem Treibhausgas, das bis zu 400-mal klimaschädlicher ist als Kohlenstoffdioxid, soll es richten.
Das Dilemma, in dem sich der Grünen-Politiker befindet, ist kein rein persönliches. Die Klimapolitik befindet sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit all seinen verheerenden Folgen in einer Zwickmühle. Der Krieg hat die klimapolitischen Ziele Deutschlands grundlegend in Frage gestellt. Auf der einen Seite soll die Abhängigkeit von aus Russland importiertem Gas und Öl beendet werden, um nicht weiter die Kriegskasse des Kremls zu füllen. Andererseits war Gas als entscheidender Rohstoff in der Übergangsphase zur Klimaneutralität vorgesehen. Im Koalitionsvertrag priesen die Ampel-Parteien Gas noch als die ideale Brücke hin zur emissionsfreien Energie- und Stromerzeugung. Selbst neue Gaskraftwerke sollten gebaut werden. Das ist nun Makulatur.
Ein Trilemma
Stattdessen rauchen in Deutschland wieder die Schornsteine von Kohlekraftwerken. Das Kohlekraftwerk in Mehrum in Niedersachsen war kaum in der Netzwerkreserve, ehe es wieder hochgefahren wurde. Der Anteil der Kohleverstromung ist in diesem Jahr deutlich gestiegen (siehe Grafik). Die Umweltschutzorganisation Greenpeace schätzt, dass die verstärkte Nutzung der Kohleenergie allein in diesem Jahr 30 bis 40 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich verursacht hat. Immerhin ist Braunkohle der einzige Rohstoff abgesehen von Sonne und Wind, der hierzulande noch gefördert wird – und nicht importiert werden muss. Zwar hält die Regierung an Kohle- und Atomausstieg fest, doch Letzterer zumindest wurde um einige Monate verschoben. Denn ohne Gas aus Russland, Kohle- und Kernkraft wäre die Versorgungssicherheit gefährdet.
„Durch die aktuelle Fokussierung auf Energiesicherheit und die Substitution der ausfallenden russischen Energieimporte lässt sich insbesondere in Europa eine Art krisenbedingter Renaissance der fossilen Energien beobachten“, erklärt Kevin Oswald, Experte für Energie und Ressourcen bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Und nicht nur hier: Auch in Schwellen- und Entwicklungsländern findet ein sogenannter „fuel switch“ statt, bei dem die Staaten aufgrund der stark gestiegenen Kosten für Gas auf klimaschädlichere, aber günstigere Technologien wie Kohleverstromung zurückwechseln. Denn neben Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit spielt für viele nach der Corona-Pandemie finanziell stark belastete Staaten auch die Erschwinglichkeit eine große Rolle – eigentlich also ein Trilemma.
Das Global Carbon Project, ein weltweiter Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die den Kohlenstoffkreislauf global beobachten, hat auf der jüngsten Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen im ägyptischen Scharm El Scheich eine Studie vorgestellt, nach der die globalen Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Vorjahr um 1% zugenommen haben. Das klingt verkraftbar, ist dem Netzwerk zufolge jedoch der zweithöchste Anstieg nach 2019 und geht zu wesentlichen Teilen auf die verstärkte Nutzung der Kohle – vor allem in Indien – und den nach der Pandemie wieder deutlich zunehmenden Flugverkehr – vor allem in den USA – zurück.
Auf die Energiewende kann sich der Ukraine-Krieg aber auch positiv auswirken. Eine Studie von Allianz Trade (früher Euler Hermes) hat herausgefunden, dass der Wettlauf um die Energiehoheit und Energieunabhängigkeit die Energiewende hierzulande sogar beflügeln und die Erreichung des im Pariser Klimaabkommen von 2015 festgesetzten 1,5-Grad-Ziels wahrscheinlicher machen könnte. Die Renaissance der Kohlekraft dürfte nur vorübergehender Natur sein.
Denn zum einen sind erneuerbare Energien aus Kostenperspektive längst konkurrenzfähig. Die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (Irena) hat berechnet, dass die durchschnittlichen Kosten während der Lebensdauer einer Anlage pro erzeugter Megawattstunde Strom (Stromgestehungskosten) für Fotovoltaik- und Wasserkraftanlagen 11% niedriger lagen als die günstigste neue fossil befeuerte Stromerzeugungsoption. Bei Onshore-Windkraftanlagen lagen die Stromgestehungskosten sogar 39% darunter. Die Denkfabrik Carbon Tracker, die sich mit den Folgen des Klimawandels für die Finanzmärkte befasst, prognostiziert, dass Sonnen- und Windenergie bis etwa 2035 den gesamten Strom weltweit erzeugen und bis 2050 fossile Energieträger vollständig abgelöst haben könnten.
Zum anderen wird klimaschädliches Verhalten immer teurer. Dafür sorgt nicht zuletzt der Emissionszertifikatehandel (ETS), der den Preis pro Tonne ausgestoßenem CO2 von Jahr zu Jahr verteuert. Erst kurz vor Weihnachten einigten sich die EU-Gesetzgeber auf eine Reform des europäischen Zertifikatehandels, der die betroffenen Wirtschaftssektoren zwingen soll, ihre Emissionen bis 2030 um 62% zu reduzieren. Das betrifft schon heute die Industrie, ab 2027 werden auch die Sektoren Gebäude und Verkehr mit einem ETS reguliert.
Zukunft Wasserstoff?
Und dann gibt es da noch die Option Wasserstoff. Gegenüber Solar- und Windenergie hat Wasserstoff den Vorteil, wetter- und tageszeitenunabhängig verfügbar zu sein – und kann mit klimaneutraler Energie erzeugt werden. Die erhöhten Gaspreise haben früher als erwartet zu einer Kostenangleichung von grünem und blauem, mit Hilfe fossiler Brennstoffe gewonnenem Wasserstoff geführt (siehe Grafik). Damit verbessert sich das wirtschaftliche Argument für die Herstellung von Wasserstoff aus Elektrolyseuren, die mit erneuerbarem Strom betrieben werden. Insbesondere für die energieintensive Industrie soll Wasserstoff zu einer grünen Perspektive werden. Hier allerdings ist wieder einmal die Politik gefragt. Denn bislang wird Wasserstoff vor allem unter Verwendung von Erdgas hergestellt. Das Umweltbundesamt schreibt in einer Handreichung zu den Folgen des Ukraine-Kriegs für die Industrie: „Die Bundesregierung ist aufgerufen, wegen der derzeitigen Unsicherheiten im Gasmarkt verlässliche Rahmenbedingungen zur Dekarbonisierung der Stahlindustrie durch Wasserstoff- und – zeitlich vorgelagert – Erdgaseinsatz und gegebenenfalls neue Anreize zu schaffen, da sich sonst der erforderliche Umbau der Stahlindustrie um Jahre verzögern könnte.“
Im Juli bereits verabschiedete der Bundestag das sogenannte Osterpaket, um den Markthochlauf der Wasserstoffwirtschaft zu gewährleisten und den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. So sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren gestrafft und mehr als doppelt so viel Fläche an Land für den Ausbau der Onshore-Windkraft zur Verfügung gestellt werden. Außerdem setzt Deutschland auch auf den Import von Ammoniak als Träger von grünem Wasserstoff. Ein Terminal für den Import ist in Brunsbüttel geplant und soll 2026 in Betrieb gehen.
Energieautonomie als Ziel
Selbst das LNG-Terminal in Wilhelmshaven lässt sich als Teil der Zukunftsstrategie deuten: Die Infrastruktur soll innerhalb kürzester Zeit auf Wasserstoff umgerüstet werden können, sagte Bundeswirtschaftsminister Habeck bei der Eröffnung. Denn Wasserstoff ist für ihn ein Energiespeichermedium erster Wahl, wie er nicht müde wird zu betonen. Habeck mag – wie die internationale Klimapolitik – im ersten Jahr seiner Amtszeit von den Folgen der Coronakrise und dem Ukraine-Krieg getrieben worden sein. Er hat aber nun die Möglichkeit, auf Grundlage eines großen gesellschaftlichen und politischen Konsenses die Weichen für die Klimaneutralität und weitgehende Energieautonomie Deutschlands richtig zu stellen.