Zeitenwende

Zäsur für die Weltwirtschaft

Inflation, Zinswende, Energiekrise, Globalisierung: Der Ukraine-Krieg beschleunigt den Abschied von einigen Gewissheiten und Illusionen – und rüttelt an anderen.

Zäsur für die Weltwirtschaft

Der verheerende und völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine bedeutet eine geopolitische Zäsur – mutmaßlich so­gar die größte Zäsur seit 1989/1990 mit dem Fall der Berliner Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Anfang vom Ende der Sowjetunion. Die langfristigen Folgen sind bislang kaum überschaubar, wobei die drohende neue Blockbildung mit den USA und Europa auf der einen sowie Russland und China auf der anderen Seite brandgefährlich ist. Permanente Konfrontation birgt jederzeit die Gefahr spontaner Eskalation. Aber auch für die Weltwirtschaft bedeutet der Krieg eine Zäsur, eine Zeitenwende – und das in vielfacher Hinsicht. Der Krieg beschleunigt den Abschied von einigen Gewissheiten und Illusionen, rüttelt an anderen – und könnte die globale Wirtschaftsordnung neu schreiben.

Da ist zum einen und zuvorderst das Thema dieses Jahres: Inflation. Der Krieg hat endgültig Schluss gemacht mit der Illusion, dass die Inflation auf Dauer besiegt, ja sogar „tot“ sei – wie es so mancher Experte angesichts der sehr lange sehr niedrigen Inflationsraten während der „Great Moderation“ proklamiert hatte. Der Krieg und die Energiekrise haben dabei die Inflation zwar noch einmal befeuert – bis auf in der Spitze 9,1% in den USA und 10,6% in Euroland. Aber auch zuvor schon hatte die Teuerung deutlich zugelegt. Bereits im Januar 2022, vor Ausbruch des Krieges, lag die Inflation in den USA bei 7,5% und im Euroraum bei 5,1%.

Das Ende des stets billigen Geldes

Nun dürften Inflationsraten nahe am oder sogar im zweistelligen Bereich zwar kaum zur neuen Normalität werden. Es zeichnet sich aber ab, dass das Umfeld extrem niedriger Raten der Vergangenheit angehört und künftig dauerhaft mit mehr Inflation zu rechnen ist – womöglich Richtung 3% oder 4%, oberhalb des verbreiteten 2-Prozent-Ziels. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die disinflationären Kräfte der vergangenen Jahrzehnte nachlassen. So könnte die Globalisierung künftig weniger stark auf die Preise drücken – zumal wenn sie teils rückabgewickelt wird. Zudem gibt es in vielen Ländern eine alternde Bevölkerung – wodurch das globale Arbeitsangebot sinkt. Und auch die grüne Transformation könnte die Inflation strukturell weiter erhöhen. Die Zentralbanker weltweit können deshalb derzeit gar nicht anders, als alles zu tun, Zweitrundeneffekte zu vermeiden, mit denen die Inflation völlig außer Kontrolle geraten könnte. Die Warnung der Zentralbank der Zentralbanken BIZ vor dem Abrutschen in ein neues, gefährliches Inflationsregime ist ernst zu nehmen.

Eng verbunden damit ist zum anderen ein zweites Thema: das Ende des billigen Geldes. In den vergangenen 40 Jahren sind die Zinsen weltweit in der Tendenz immer weiter gesunken, wobei sich über die Gründe im Einzelnen trefflich streiten lässt. In den vergangenen Jahren von Weltfinanzkrise, Euro-Staatsschuldenkrise, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg ist das schließlich auf die Spitze getrieben worden – mit Null- und Negativzinsen sowie beispiellosen Anleihekaufprogrammen der Notenbanken.

Damit ist nun Schluss. Allen voran die US-Notenbank Fed hat dieses Jahr ihren Leitzins so aggressiv erhöht wie seit den 1980er Jahren nicht mehr – um 425 Basispunkte seit März. Die EZB hat länger gezögert, holt nun aber auf. Die Fed baut zudem ihre Bilanz ab und die EZB wird bald folgen. In der Folge haben die Anleiherenditen weltweit deutlich angezogen, was die Finanzierungskonditionen verschärft. Es war nie richtig, Staatsausgaben wegen der Niedrig- und Negativzinsen als eine Art „free lunch“ anzusehen. Jetzt sollten das aber auch die vehementesten Ausgaben-Apologeten verstanden haben. Die Fiskalpolitik hat im Krieg noch einmal Schlimmeres verhindert. Aber sie stößt endgültig an ihre Grenzen. Das Chaos um das britische Mini-Budget von Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss sollte allen eine Lehre sein.

Das vermeintliche Patentrezept vergangener Krisen – immer mehr, immer billigeres Geld – ist damit endgültig ad absurdum geführt. Mehr denn je kommt es deswegen nun auf die langfristig richtigen Weichenstellungen an: Nahezu überall sind endlich entschlossene Strukturreformen nötig, um die Produktivität zu erhöhen. Sie sind viel zu lang sträflich vernachlässigt worden. Es braucht mehr Investitionen in die Digitalisierung und das Humankapital. Auch Deutschland mutet da in vielen Bereichen immer noch wie eine Digitalisierungswüste an. Und die grüne Energiewende muss beschleunigt werden. Das gilt umso mehr, als die desaströse Energieabhängigkeit vor allem Europas von Russland alsbald beendet werden muss.

Das führt zur dritten Zäsur: der Energiekrise. Sie ist bereits im Zuge der Wiedereröffnung der Volkswirtschaften nach der Corona-Pandemie zutage getreten, hat sich aber mit dem Krieg noch einmal zugespitzt. Die Notwendigkeit von Energiesicherheit war viele Jahre in den Hintergrund gerückt. Energie schien stets ausreichend verfügbar. Der Energie(preis)schock und die dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Verwerfungen zwingen die Regierungen jetzt aber dazu, ihre Strategien zu überdenken. Teure Gas- und Strompreisdeckel bringen den Unternehmen und Haushalten zwar in der aktuellen Lage Entlastung, werden aber die Versorgungskrise nicht beenden können. Kurzfristig muss es nun darum gehen, das Energieangebot massiv auszubauen. In Deutschland bedeutet das auch längere Laufzeiten für die Atomkraftwerke. Langfristig ist es dringend geboten, den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netzinfrastruktur stark zu beschleunigen. Der Inflation Reduction Act in den USA mit den geplanten fast 400 Mrd. Dollar Investitionen in die Energiewende und den Klimaschutz kann da ein Katalysator sein. Entscheidend ist aber, das Gesetz so anzupassen, dass es den globalen Wettbewerb stärkt – und nicht den Protektionismus.

Das leitet über zu einem vierten Themenfeld, in dem es eine Zäsur gibt – oder in dem Fall: in dem eine Zäsur droht. Das ist die Globalisierung und die internationale Wirtschaftsordnung. Womöglich noch stärker als schon die Pandemie schürt der Krieg Zweifel an der internationalen Arbeitsteilung und an den globalen Abhängigkeiten. So mancher wünscht sich im Extremfall eine Rückkehr zu einer rein nationalen Wirtschaft. Auch die multilaterale Wirtschaftsordnung steht auf dem Prüfstand. Drohte in der Pandemie vor allem eine wirtschaftliche Spaltung zwischen den Industrie- und Schwellenländern, ist es nun die auch ökonomisch zunehmende Blockbildung, die Sorgen machen muss. Der Rückzug Chinas und anderer großer Schwellenländer aus den institutionellen Infrastrukturen, die die Welt in den vergangenen 15 Jahren geprägt haben, beschleunigt sich.

Nun ist zweifellos anzuerkennen, dass die Krisen der vergangenen Jahre auch die Risiken einer global vernetzten Wirtschaft offengelegt haben. Insofern ist es richtig und wichtig, beispielsweise die Widerstandsfähigkeit von Lieferketten zu stärken, wozu auch Regionalisierung als ein Element gehört. Und genauso stimmt es, dass die internationale Wirtschaftsordnung alles andere als perfekt ist. Vor allem die Rolle der Schwellenländer gilt es zu stärken.

Alles in allem ist die Globalisierung aber eine Erfolgsgeschichte. Sie hat weltweit das Wirtschaftswachstum angekurbelt, den Wohlstand der Menschen in den vergangenen 50 Jahren enorm gemehrt und maßgeblich dazu beigetragen, dass der Anteil der in großer Armut lebenden Weltbevölkerung wie auch die Einkommensungleichheit zwischen den Ländern abgenommen haben. Und ohne die über Jahrzehnte gewachsene Wirtschaftsordnung war die Welt ganz sicher sehr viel unvollkommener als heute.

Es wäre deshalb jetzt absolut falsch, das Rad der Globalisierung zurückzudrehen. Eine komplette Entflechtung der Weltwirtschaft wäre auch kaum mehr möglich. Und es wäre fatal, wenn die bisherige Wirtschaftsordnung durch eine neue harte Blockbildung oder eine Wirtschaftsunordnung abgelöst würde. Ja, es wird künftig mehr Konkurrenz und Konflikte vor allem zwischen den Wirtschaftsmächten USA und China geben. Es muss aber das Ziel sein, mit Vernunft, Zurückhaltung und strategischer Geduld eine Eskalation zu vermeiden. Denn das würde nur Wachstum und Wohlstand kosten. Und daran kann niemand Interesse haben – nicht in Washington und nicht in Peking.

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