Zeitenwende bei Bundesanleihen
Von René Albrecht*)
Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht sich als Hüter des heiligen Grals, eines Schatzes, den sich die Bundesrepublik mit solider Finanzpolitik in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat. Dabei geht es nicht um die Goldreserven der Bundesbank, die mit einem Volumen von derzeit 298 Mrd. Euro vielleicht auch Begehrlichkeiten von einigen Ressortchefs wecken. Vielmehr geht es um die Verteidigung des Nimbus Bundesanleihen als „Goldstandard“ unter den Staatsanleihen der Euro-Staaten sowie als Fels in der Brandung für internationale Investoren.
Dieses Merkmal basiert auf der Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik als einzigem Land der Eurozone mit einem nennenswerten Volumen an ausstehenden Anleihen, das die höchste Bonitätseinschätzung bei allen drei großen Ratingagenturen genießt. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, hat die damalige Bundesregierung im Jahr 2011 die bestehenden Regelungen erweitert und eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert. Der Bundeshaushalt darf seither nur eine maximale Neuverschuldung von 0,35% des Bruttoinlandsproduktes aufweisen.
Schuldenbremse ausgesetzt
Dass diese Regel allerdings nicht ganz so streng ist, wurde den meisten wohl spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie bewusst. Und so wurde zunächst die Schuldenbremse per parlamentarischer Zweidrittelmehrheit für die vergangenen zwei Jahre und das laufende Haushaltsjahr 2022 ausgesetzt. Die Kreditaufnahme des Bundes war seither fast wie entfesselt – für alle drei Coronajahre liegt der Bruttokreditbedarf jeweils bei über 430 Mrd. Euro, 2021 waren es sogar mehr als 500 Mrd. Euro. Das ist mehr als ein Viertel aller umlaufenden Bundesanleihen und wäre wohl auch für 2022 ähnlich hoch, würde die Finanzagentur des Bundes als Schuldenmanagerin die für dieses Jahr fälligen Refinanzierungen von annähernd 540 Mrd. Euro nicht auch über den Abbau ihrer Liquidität finanzieren. Die Ausnahmen für den Bundeshaushalt sollen nach dem Ende der Corona-Notlage nun aber wieder gekappt werden – so will es der Bundesfinanzminister ab dem Jahr 2023. Das stellt ihn allerdings vor ein paar Probleme: Er verspricht Geld, das der Bundeshaushalt eigentlich nicht hergibt.
Hierzu zählen etwa die 65 Mrd. für das dritte Entlastungspaket in der Energiekrise, wofür der Bund auf die Asylrücklage zurückgreift, die der damalige Bundesfinanzminister Scholz 2015 für mögliche Kosten in der Migrationskrise entwickelt hatte. Bislang wurde diese aber nicht angezapft und ist auf 48 Mrd. Euro angeschwollen. Die FDP scharrte schon lange mit den Hufen und drang auf eine Entnahme aus dieser Reserve, nun wird der 2023er Haushalt mit 40 Mrd. Euro aus dieser Rücklage ausgeglichen. Allerdings: Geld befindet sich in dieser Rücklage keins, sondern vielmehr Kreditermächtigungen mit unbegrenzter Laufzeit. Will die Bundesregierung das Entlastungspaket mit Entnahmen aus der Asylrücklage also finanzieren, steigt das Nettoemissionsvolumen des Bundes im Jahr 2023 von derzeit geplanten 17 Mrd. Euro (0,35% des BIP) auf 57 Mrd. Euro, ganz legal am regulären Haushalt vorbei.
Eine ähnliche Volte vollzog die Bundesregierung angesichts der Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Das Sondervermögen Bundeswehr trägt bereits alle Merkmale für diese Aufgabe im Titel – von der Schuldenbremse ausgenommene Kreditermächtigung des Bundes zur Ertüchtigung der Landesverteidigung. Seit März dieses Jahres ist klar, dass dies eine zusätzliche Nettokreditaufnahme des Bundes ab dem Jahr 2023 in Höhe von jeweils 20 Mrd. Euro bedingt, für die kommenden fünf Jahre.
Und nun der wirtschaftliche Abwehrschirm der Bundesregierung – statt Gasumlage, welche die Privaten und Unternehmen belastet und der Inflation weiteren Aufwind verschafft hätte, finanziert der Staat einen Gaspreisdeckel. Hierzu befüllt er den mit Ausbruch der Corona-Pandemie geschaffenen Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) mit bis zu 200 Mrd. Euro an Kreditermächtigungen.
Das Primärangebot an neuen Bundeswertpapieren wird im kommenden Jahr also beileibe nicht jene Zeitenwende erleben, welche die Schuldenbremse suggeriert – der Staat nimmt weiter fleißig neue Schulden auf. Anders als für Großbritannien sehen die Marktteilnehmer in diesem Vorhaben allerdings kein strukturelles Problem für die Verschuldungssituation Deutschlands. Vielmehr ist der Anteil an Bunds im Streubesitz auffallend gering – weniger als 15% der Anleihen sind frei handelbar. Dies hat zur Folge, dass sie derzeit mit einer Knappheitsprämie gegenüber den übrigen Anleihen der Euro-Staaten handeln. Ursächlich hierfür sind die Anleihekäufe (QE) der Europäischen Zentralbank (EZB), von denen Bunds relativ am stärksten profitiert haben. Ein Abbau der auf der EZB-Bilanz gehaltenen Staatsanleihen zeichnet sich noch nicht ab – ändert sich dies, könnte der Abbau eine stärkere Wirkung auf die Entwicklung der Bund-Renditen nehmen als immer neue Ausgabenprogramme der Bundesregierung am Haushalt vorbei.
Stillhalten der EZB
Das Stillhalten der EZB an der QE-Front ist aber kein Freifahrtschein für die Bundesregierung, weiterhin munter Schulden zu machen. Denn es wird auch für Deutschland zunehmend teurer, Kredite aufzunehmen: Für Zinszahlungen sind im kommenden Jahr knapp 30 Mrd. Euro vorgesehen. Im Jahr 2021 waren es gerade einmal 4 Mrd. Euro. Der deutliche Anstieg resultiert einerseits aus der rekordhohen Inflationsrate, mit der die Kuponzahlungen für inflationsindexierte Bunds im kommenden Jahr etwa ein Drittel der geplanten Zinsausgaben auf sich vereinen. Zum anderen setzte die Finanzagentur in den vergangenen Jahren vor allem auf unverzinsliche Schatzanweisungen (Bubills) mit Laufzeiten von bis zu zwölf Monaten, um die coronabedingten Nachtragshaushalte zu finanzieren. Diese müssen nun zu höheren Marktrenditen refinanziert werden und verursachen dabei hohe Disagien. Disagien fallen an, wenn der Kupon einer Anleihe niedriger liegt als deren Marktzins – das Wertpapier wird dann mit einem Abschlag auf den Rückzahlungskurs emittiert. Diese Abschläge werden im laufenden Bundeshaushalt als Zinsausgaben erfasst. Dies bedeutet für ein Schatzamt im Normalfall weiterhin einen Kostenvorteil im Vergleich zu einer längerfristigen Verschuldung. Das trifft allerdings nicht auf eine Kurveninversion zu, die in den kommenden Monaten auch für die Bund-Kurve immer wahrscheinlicher wird. Damit steckt die Finanzagentur in einem Dilemma – einerseits sind Bubills bei Investoren jetzt heiß begehrt, da sie im Falle steigender EZB-Zinsen die geringsten Barwertrisiken aufweisen. Andererseits würden die Zinsausgaben zumindest vorläufig geringer ausfallen, wenn mehr längerfristige kupontragende Titel emittiert werden. Wie man es aber auch hält – die Refinanzierungskosten für Deutschland werden in jedem Fall steigen.
*) René Albrecht ist Analyst bei der DZ Bank.