Im InterviewMarcel Fratzscher

„Drei Zinsschritte bis Ende des Jahres sind zu wenig“

DIW-Präsident Marcel Fratzscher hält die Zinsen im Euroraum für zu hoch und fordert eine andere Kommunikation der EZB. Weshalb, erklärt er im Interview der Börsen-Zeitung.

„Drei Zinsschritte bis Ende des Jahres sind zu wenig“

Im Interview: Marcel Fratzscher

„Drei Zinsschritte bis Ende des Jahres sind zu wenig“

Der DIW-Präsident hält die Zinsen im Euroraum für zu hoch und fordert eine andere Kommunikation der Notenbank

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist für Marcel Fratzscher zu restriktiv. Die Zinsen sollten innerhalb der nächsten 12 bis 14 Monate deutlich sinken, fordert der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Interview. Ansonsten habe die Notenbank mittelfristig ein Problem.

Herr Fratzscher, auch nach dem gestrigen Zinsentscheid steuert die Europäische Zentralbank (EZB) weiter auf den Beginn der Zinswende im Juni zu. Kann da realistischerweise noch etwas dazwischenkommen – wie ein deutlich höheres Lohnwachstum als erwartet – oder ist die Lockerung im Juni quasi bereits in Stein gemeißelt?

In Stein gemeißelt ist sie sicherlich nicht, auch wenn vieles auf eine Zinssenkung im Juni hindeutet. Aber wir leben nun mal in Krisenzeiten, in denen sich Dinge auch schnell ändern können. Damit meine ich nicht die Lohnentwicklung, die mir keine Sorgen bereitet, sondern die Lage im Nahen Osten und in der Ukraine. Je nachdem, wie sich die Situation dort entwickelt, könnten die Energiepreise stärker zulegen als aktuell erwartet, was die Inflation verstärken würde. Insgesamt ist für mich allerdings das Risiko größer, dass die Inflation mittelfristig niedriger ausfallen wird als von der EZB erwartet.

Weshalb kommen Sie zu diesem Schluss?

Die Wirtschaft im Euroraum und besonders in Deutschland produziert deutlich unter ihrem Potenzial. Es besteht das Risiko, dass die Konjunktur schwach bleibt, da die Geldpolitik der EZB stark restriktiv wirkt. Die geringere Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen reduziert die Inflation. Auch mittelfristig schwächt die restriktive Geldpolitik das Wirtschaftswachstum, da Unternehmen weniger investieren. Nach den Modellen des DIW wird die deutsche Wirtschaft bis 2028 unter ihrem Potenzialwachstum bleiben, in der Eurozone wird die Erholung etwas schneller gehen. Ich hätte daher befürwortet, wenn die EZB bereits im April die Zinsen gesenkt hätte.

Wie stark restriktiv ist denn die Geldpolitik im Moment aus Ihrer Sicht? Es spielen beim Wirtschaftswachstum und der Produktionsauslastung ja auch noch andere Faktoren eine Rolle.

Man muss bei solchen Modellen immer vorsichtig sein, aber unsere Berechnungen ergeben, dass ohne eine restriktive Geldpolitik das Wirtschaftswachstum in der Eurozone 2023 circa um einen Prozentpunkt höher gewesen wäre. Aber natürlich wäre auch die Inflation höher gewesen, als sie es war. Von daher kritisiere ich nicht die Zinserhöhungen der EZB im vergangenen Jahr, sondern dass sie jetzt Gefahr läuft, zu spät zu senken. Die EZB muss zu einer symmetrischen und vorausschauenden Geldpolitik zurückkehren. Auch von der gestrigen Kommunikation hätte ich mir anderes gewünscht.

Marcel Fratzscher ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Zudem ist der studierte Volkswirt Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. Von 2001 bis 2011 war Fratzscher für die Europäische Zentralbank (EZB) tätig, unter anderem als Leiter der Abteilung für internationale wirtschaftspolitische Analysen. Bildquelle: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka
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Was hat Ihnen gefehlt?

Es ist zu wenig, ständig nur die Datenabhängigkeit zu betonen. Stattdessen hätte die EZB kommunizieren sollen, dass sie das Ziel hat, die Geldpolitik bis 2025 wieder auf ein neutrales Niveau zu senken. Diese klare Perspektive hätte den Unternehmen wieder mehr Sicherheit für Investitionen gegeben und zudem bereits jetzt die Finanzierungskonditionen gelockert und damit das Wirtschaftswachstum gestärkt. Wenn es dann bis 2025 einen größeren externen Preisschock geben sollte, etwa bei den Energiepreisen, könnte die EZB von diesem Plan wieder abweichen, da sich die Datenlage geändert hätte.

Bei welchem Zinssatz wäre das neutrale Niveau denn erreicht, bei dem die Wirtschaft weder stimuliert noch ausgebremst wird?

Genau lässt sich das nicht sagen. Aber bei aller Unsicherheit, die es bei der Schätzung des neutralen Zinses gibt, dürfte er unter 3% liegen. Vielleicht sogar ein gutes Stück darunter. Aktuell liegt der Hauptrefinanzierungssatz der EZB bei 4,5%. Damit der neutrale Zins in 12 bis 14 Monaten erreicht ist, bräuchten wir also Zinssenkungen in etwa um 175 bis 200 Basispunkte bis dahin. Das deckt sich nicht mit der Kommunikation der EZB. Die EZB läuft daher wieder Gefahr, hinter der Kurve zu sein, wie sie es schon bei den Zinserhöhungen 2022 war, als sie früher die Zinsen hätte anheben sollen. Daher halte ich eine erste Zinssenkung im Juni für zu spät und die erwarteten drei Zinsschritte bis Ende des Jahres für zu wenig. Zumal man bedenken muss, dass Zinsänderungen erst in eineinhalb bis zwei Jahren ihre volle Wirkung entfalten.

Jetzt besteht das Mandat der EZB aus dem Erreichen der Preisstabilität und nicht des Potenzialwachstums der Euro-Wirtschaft. Weshalb sollte die Notenbank diesen Punkt aus Ihrer Sicht dennoch beachten?

Die primäre Aufgabe der EZB ist die Preisstabilität mit einer Inflationsrate von 2% in der mittleren Frist. Wenn sie jedoch mit ihrer jetzigen Geldpolitik das Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum reduziert, dann läuft sie Gefahr, das Inflationsziel in den kommenden Jahren zu unterschreiten. Auch damit würde sie das Ziel der Preisstabilität nicht erreichen. Daher ist das Thema Potenzialwachstum und Investitionen auch für das Mandat der EZB relevant.

Wenn wir über das Thema Investitionen sprechen, dann müssen wir auch über die Schuldenbremse in Deutschland reden. Sie fordern eine Reform.

International sorgt die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form nur noch für Kopfschütteln. Deutschland hat einen hohen Bedarf an staatlichen Investitionen, die wegen der Schuldenbremse teilweise ausbleiben. Gleichzeitig haben wir das schwächste Wirtschaftswachstum aller Industrieländer, günstige Finanzierungskonditionen für Staatsverschuldung und eine geringe Schuldenquote. Die Schuldenbremse ist ein großes Risiko für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Eine Reform ist daher dringend nötig.

Wie sieht Ihr Vorschlag aus?

Es ist gut, sich bei der Staatsverschuldung Regeln zu setzen. Aber die aktuelle Ausgestaltung der Schuldenbremse ist zu unflexibel. Außerdem sollten wir zwischen Konsum und Investitionen unterscheiden. Öffentliche Investitionen sollten von der Schuldenbremse ausgenommen werden, da sie die Wirtschaft und damit Steuereinnahmen und Schuldentragfähigkeit stärken. Um das umzusetzen, müssten wir uns zuerst auf eine ökonomisch sinnvolle Definition von Investitionen einigen, denn auch Bildungsausgaben sollten gestärkt werden, auch wenn sie statistisch nicht als Investitionen zählen.

Wechseln wir das Thema zurück zur Geldpolitik. Viel wird derzeit darüber gesprochen, dass die Fed wahrscheinlich die Zinswende ein wenig aufschieben wird und welche Folgen das für die Geldpolitik der EZB hätte. Was halten Sie von der Debatte?

Natürlich wirkt sich die Geldpolitik der Fed auf die Finanzmärkte in Europa aus. Der Euro-Dollar-Wechselkurs ist davon beispielsweise betroffen. Aber ich halte die Diskussion für überzogen. Die EZB sollte sich auf die eigenen Daten konzentrieren und nicht auf die Fed schauen. Die Situation ist wirtschaftlich und auch bei der Inflationsdynamik im Euroraum eine ganz andere als in den USA. Dort haben wir ein dynamisches Wirtschaftswachstum und eine Inflation, die deutlich höher ist als bei uns. Im Euroraum ist die Geldpolitik aktuell zu straff, wie ich dargelegt habe. Daher sollte die EZB ab Juni die Zinsen zügig Stück für Stück senken, bis der neutrale Zins erreicht ist. Und diesen Plan eben auch so kommunizieren, damit sich die Finanzmärkte darauf einstellen können und eine unnötige Verunsicherung verhindert wird.

Das Interview führte Martin Pirkl.

Das Interview führte Martin Pirkl.

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