Generative KI versetzt Tech-Szene und Investoren in Ekstase
Die Börse, oh Börse, mein Herz schlägt schnell
Ich kaufe Aktien, ich verkaufe schnell
Ich werde reich, ich werde arm
Doch egal wie‘s ausgeht, ich bleibe im Schwarm.
Wem bei so viel Poesie nicht sofort das Herz aufgeht, der ist kein Mensch. Beleidigt wäre der Schöpfer dieses Gedichts aber ohnehin nicht, denn er ist ja selbst kein Mensch. Stattdessen handelt es sich bei dem Urheber um den Ende November vom kalifornischen Forschungsunternehmen OpenAI gestarteten Chatbot „ChatGPT“, der seitdem in der Tech-Szene für Furore sorgt – und beim Suchmaschinen-Riesen Google die Alarmglocken schrillen lässt.
Denn das auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Tool, das nach eigenen Angaben innerhalb von wenigen Tagen mehr als eine Million Nutzer zählte, besticht durch seine Fähigkeit, den Anwendern im Dialogformat so gut wie alle Fragen zu beantworten und Textwünsche fast jedweder Natur zu erfüllen. Ob journalistische Artikel, Stellungnahmen, Analysen, Reden, Witze, Liedtexte, Prosa, Tweets, Drehbücher oder sogar Programmiercode – sofern es sich nicht um unangemessene Anfragen handelt, liefert die generative KI, und zwar in Sekundenschnelle.
Die Ergebnisse sind dabei nur schwer von dem zu unterscheiden, was ein Mensch fabrizieren würde, wie ein Test der „New York Times“ vor wenigen Tagen gezeigt hat. Darin konnten Lehrer, Professoren und Kinderbuchautoren nicht immer erkennen, ob Aufsätze zu bestimmten vorgegebenen Themen von ChatGPT oder von einem Viertklässler geschrieben wurden.
Zwar gerät der Bot zum Teil noch an seine Grenzen. So kann es vorkommen, dass die Antworten nicht immer Sinn ergeben, manchmal schlichtweg falsch sind oder dass sie Vorurteile perpetuieren. Hinzu kommt, dass sich die generierten Texte aus einer Wissensbasis speisen, die im Jahr 2021 endet. Aktuellere Themen kann das Sprachmodell daher nicht bearbeiten. Auch Rechtsfragen etwa zur Wiederverwendung bzw. Abänderung geistigen Eigentums durch die KI sind bislang – wie bei allen Sprachanwendungen – noch nicht geklärt. Zu den harmloseren Defiziten zählt zudem, dass sich das System manchmal in langatmigen Antworten verliert.
Elon Musk findet dennoch: „ChatGPT ist erschreckend gut.“ Man sei nicht weit entfernt von „gefährlich starker KI“, wie er kurz nach Erscheinen der zunächst kostenlosen Bot-Demoversion auf Twitter konstatierte. Der Tesla- und Noch-Twitter-Chef hatte die einst gemeinnützige OpenAI 2015 zusammen mit mehreren anderen Gründern, darunter dem Programmierer und ehemaligen President des US-Start-up-Investors Y Combinator, Sam Altman, ins Leben gerufen. Heute ist Altman CEO des Unternehmens, das nach einer Umstrukturierung im Jahr 2019 durchaus auch gewinnorientiert ist. Im gleichen Jahr erhielt OpenAI von Microsoft eine Geldspritze von 1 Mrd. Dollar. Dem „Wall Street Journal“ zufolge verhandelten die beiden Unternehmen zuletzt über eine weitere Finanzierungsrunde.
Zahlreiche Einsatzfelder
Die kommerziellen Möglichkeiten, die sich aus Sprachmodellen wie dem von OpenAI und darauf aufbauenden Lösungen weiterer Anbieter ergeben, sind in Gänze zwar noch nicht abzusehen. Vielfältig werden die Anwendungen laut Beobachtern aber allemal. Vor allem dort, wo Mitarbeitende eines Unternehmens mit Kunden in Kontakt kommen, dürften die Programme genutzt werden. Dealroom-Analyst Lorenzo Chiavarini nennt beispielsweise die Bereiche Marketing, Werbung und Vertrieb als mögliche Einsatzfelder. Daneben könnten auch Juristen und Akteure aus Kreativbranchen wie Spieleentwickler, Grafikdesigner, Produktdesigner, Programmierer oder Architekten künftig in Berührung mit generativer KI kommen. „Generative KI könnte manche Funktionen komplett ersetzen, während sie in anderen Bereichen das menschliche kreative Schaffen noch bereichern dürfte“, schreibt Chiavarini.
Die jüngsten Fortschritte in der Technologie elektrisieren vor dem Hintergrund derzeit nicht nur deren Anwender. Auch Wagniskapitalinvestoren sind dieses Jahr trotz des wirtschaftlichen Abschwungs verstärkt auf den Zug gesprungen und haben die Finanzierungsvolumina und Bewertungen in die Höhe getrieben. So haben „GenAI“-Start-ups 2022 laut Dealroom bis zuletzt zusammen rund 1,6 Mrd. Dollar an Risikokapital eingesammelt − 76 % mehr als im Vorjahr. Die Bewertungen stiegen zudem insgesamt auf 21 Mrd. Dollar, nach 12,8 Mrd. Dollar im Jahr 2021. Zu den wichtigsten Geldgebern zählt Analyst Chiavarini Sequoia Capital, Index Ventures, Tiger Global, Lightspeed Ventures, Coatue Management und Bessemer Venture Partners.
Zu jenen, die es in diesem Jahr mithilfe einer Megarunde (also einer Finanzierungsrunde im Volumen von über 100 Mill. Dollar) zum Einhorn-Status gebracht haben, gehört die 2020 gegründete Open-Source-Firma Stability.ai aus London. Der Entwickler steckt hinter dem im August gestarteten KI-Kunstgenerator „Stable Diffusion“, der aus Textanweisungen Bilder kreiert. Ein ähnliches Computerprogramm namens „Dall-E“ bietet auch OpenAI. Von Dall-E stammen die auf dieser Seite abgebildeten Roboter-Illustrationen, die bei genauem Hinsehen zeigen, dass (ähnlich wie bei der Textgenerierung) auch Bildgeneratoren oftmals noch nicht perfekt funktionieren und vielfach von den KI-Fähigkeiten des Anwenders abhängen.
Experten weisen mit Blick auf die Veröffentlichung der Quelltexte etwa von Bilderzeugungsprogrammen darauf hin, dass dies auch jenen Tür und Tor öffnet, die im Internet mit weniger guten Absichten unterwegs sind und dadurch etwa noch leichter Deepfakes erstellen können. Auf der anderen Seite hat aber gerade der Open-Source-Ansatz dafür gesorgt, dass Unternehmen, deren Produkte auf diesen Technologien aufbauen, zuletzt wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. KI-fokussierten Investoren seien vor dem Hintergrund noch nie so beschäftigt gewesen wie derzeit, zitiert Pitchbook eine Partnerin des Seed-Stage-Investors Unusual Ventures. Sie schätzt, dass allein in diesem Herbst mehr als 50 GenAI-Start-ups eine Seed-Finanzierung erhalten haben.
Pitchbook-Software-Analyst Brendan Burke hält es dennoch für angezeigt, die Erwartungen nicht übermäßig hoch zu hängen: „Die Ergebnisse von Stable Diffusion übersteigen noch nicht die Leistung menschlicher Künstler“, so sein Fazit. Bis es hier zu weiteren Verbesserungen kommt, dürfte die Software aus seiner Sicht noch nicht in der Breite eingesetzt werden.
Große Sorgen bei Google
Doch nicht alle Akteure sehen die jüngsten Entwicklungen im Bereich KI so gelassen. Der Chatbot von OpenAI und seine Fähigkeiten haben bei Google etwa zuletzt für Beunruhigung gesorgt − und dort den sogenannten „Code Red“, also einen „Roten Alarm“ ausgelöst, wie die „New York Times“ berichtete. Für den Suchmaschinengiganten stellt das Tool eine ernsthafte Bedrohung im Kerngeschäft dar. Denn wer gibt sich bei einer Suchanfrage schon mit einer bloße Auflistung von Links zufrieden, wenn er auch perfekt ausformulierte Antworten haben kann? Zwar ist Google auch selbst im Bereich KI und maschinelles Lernen aktiv. In den vergangenen drei Jahren hat die Alphabet-Tochter 100 Mrd. Dollar in die Technologien gesteckt und unter anderem den Chatbot Lamda entwickelt. Womöglich aber könnten die Fortschritte von OpenAI dem Konzern dennoch gefährlich werden. Wie darauf zu reagieren ist, das könnte Google beispielsweise ChatGPT fragen.