„Ein finaler Ausverkauf fehlt noch“
Von Werner Rüppel, Frankfurt
Schon Ende 2021 in seinem Jahresausblick „Vom Überfluss zum Mangel“ hat das Frankfurter Analysehaus Sentix vor einem Einbruch an den Aktienmärkten in diesem Jahr gewarnt. Geradezu legendär sind die Sentix-Analysen, die auch Anlegerverhalten und die Ergebnisse der wöchentlich online stattfindenden Sentix-Investorenbefragungen miteinbeziehen, aus den Jahren der vorangegangenen Finanzkrisen 2000/2003 sowie 2008/2009. Denn die Sentix-Analysten haben damals sowohl den Absturz an den Aktienmärkten als auch die Wendepunkte an den Märkten im Frühjahr 2003 und im Frühjahr 2009 recht treffsicher prognostiziert.
Wer also die Sentix-Investorenbefragungen regelmäßig studiert und wer die Sentix-Analysen in sein Kalkül mit einbezieht, ist auch an den Märkten im Vorteil. Daher schauen auch viele Fondsmanager, wie u.a. Frank Fischer von Shareholder Value Management, und Analysten, wie u.a. auch die Strategen der LBBW, auf die wöchentlichen Ergebnisse des Sentix Global Investor Survey.
Kursparallelen zu 2008
Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat es für die Kapitalmärkte im ersten Halbjahr ein so nicht erwartetes Ereignis gegeben. Doch wo stehen wir jetzt, nachdem die Inflationsrate hochgeschossen ist, die Notenbanken die Zinsen anheben und die Aktienmärkte eingebrochen sind? „Wir haben jetzt einen Mix, der relativ verheerend ist, manche sprechen daher auch von einem perfekten Sturm“, sagt Patrick Hussy, Analyst und Geschäftsführer bei Sentix, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Die Inflation ist jetzt in kurzer Zeit sehr stark angestiegen, so dass die Notenbanken nicht wie in früheren Krisen mit billigem Geld auf die aktuelle Krise reagieren können. Diese Option fällt dieses Mal weg.“
Ein Problem sei sicherlich, dass wir jetzt mit dem Ukraine-Krieg einen Faktor hätten, der schwer zu prognostizieren sei. Der Krieg könne durchaus länger dauern, und was Putin in Sachen Gaslieferung mache, sei kaum vorherzusagen. Der Krieg habe aber als „Brandbeschleuniger“ für viele Themen gewirkt, die vorher schon virulent gewesen seien. So habe sich durch den Krieg das Tempo der Inflation erhöht. Fakt sei auch der Mangel durch unterbrochene Lieferketten und Störungen des Wirtschaftslebens. Hinzu komme die zurückgehende Liquiditätsversorgung der Märkte durch die Straffung der Notenbanken, auch hier sei der Weg vom Überfluss zum Mangel beschritten worden.
„Alles in allem dürfte die Abwärtsbewegung an den Aktienmärkten noch nicht vorbei sein“, erklärt Hussy. „Ein finaler Ausverkauf fehlt noch. Wir rechnen mit einem heißen Herbst.“ Sentix sieht sehr starke Kursparallelen zum Jahr 2008, welches auch das Drehbuch für die jetzige Baisse bei Aktien liefere. „Damals hatten wir die Insolvenz von Lehman Brothers als zentrales Ereignis, jetzt könnte es die Gaskrise sein“, meint Hussy.
Konjunktur schwächt sich ab
Der Aktienmarkt sei mit mehreren großen Belastungsfaktoren konfrontiert, die erst gänzlich abgearbeitet werden müssten. So würden die Leitzinsen weltweit steigen, wenn auch vielleicht langsamer als derzeit erwartet. Insgesamt schränkten die Notenbanken die Liquidität deutlich ein. Zugleich schwäche sich die Konjunktur merklich ab, alles deute darauf hin, dass die Weltkonjunktur Probleme hat, der Abschwung treffe alle Industriestaaten.
„Auch ist davon auszugehen, dass die Aktienrückkaufprogramme in den USA, die den Markt gestützt haben, deutlich zurückgehen“, erklärt Hussy. Denn wenn die Unternehmensgewinne sinken, seien die Mittel, um Rückkäufe zu tätigen, geringer.
Private noch verwundbar
Auch im Vergleich zu der Entwicklung der Spreads bei Unternehmensanleihen sei die Volatilität am Aktienmarkt derzeit eher gering. „Wir sehen die Perspektiven für den Aktienmarkt daher eher in Moll“, folgert Hussy. Immerhin sei die Gier, die bei Investoren im vergangenen Jahr noch bezüglich Aktien geherrscht habe, inzwischen weitgehend abgebaut. So hätten gerade institutionelle Investoren ihre Positionen in den vergangenen Monaten mächtig reduziert. Auch sei das strategische Grundvertrauen der Institutionellen inzwischen negativ. „Noch relativ verwundbar sind hingegen die Privatanleger, die durch die Kursdelle gehen möchten“, sagt Hussy. „In der Regel werden diese Positionen in einer Baisse aber auch abgebaut.“
Was derzeit auffalle, dass die privaten Anleger derzeit noch ein wesentlich höheres strategisches Grundvertrauen in Aktien im Vergleich zu den Institutionellen haben. Diese strategische Divergenz liege auf einem langjährigen Hoch. „Dass auch die Privaten ihre Bestände verkaufen, fehlt noch für eine Ausverkaufssituation“, erläutert der Sentix-Analyst. Auch andere Merkmale für einen Ausverkauf wie extrem hohe Volatilität, ein Angstbarometer auf Höchstständen, eine Weltuntergangsstimmung und ein entsprechendes Medienecho seien derzeit nicht gegeben. Aktuell seien die Menschen erst im Moment des Erkennens der Probleme angelangt. Hussy wörtlich: „Ein finaler Ausverkauf im Herbst ist gut möglich.“
Die Teuerungsrate dürfte nach Ansicht des Sentix-Analysten inzwischen weitestgehend ihren Höhepunkt erreicht haben. „Die Inflationsrate dürfte langsam zurückgehen, wobei dann auch Basiseffekte sukzessive zum Tragen kommen“, erklärt Hussy. Dies dürfte dann ein wenig den Druck von den Notenbanken, die Leitzinsen im Eiltempo zu erhöhen, nehmen. Zunächst seien aber erst einmal noch weitere Straffungen angesagt.
Die merkliche Abschwächung der Weltkonjunktur dürfte auch den Rohstoffmarkt treffen. Daher dürften auch die Preise für Öl und Gas eher zurückgehen. „Die Schwerkraft der Rezession wiegt längerfristig stärker als die aktuellen Engpässe“, sagt Hussy. Die Entspannung bei den Energiepreisen dürfte seiner Ansicht nach dann auch mit zur Entspannung bei der Inflationsrate beitragen. Natürlich könne es immer bei einer kurzfristigen Eskalation eine Fahnenstange bei den Energiepreisen geben. Nur wenn sich Staaten einmal auf einen Stopp von bestimmten Energielieferungen eingestellt hätten, werde sich auch die Nachfrage verändern und der Druck aus den Preisbewegungen sukzessive entweichen.
Gold dürfte zulegen
Positiv sind die Sentix-Analysten für den Goldpreis gestimmt. „Wir sehen den Goldpreis eher bei 2000 Dollar je Feinunze als bei 1500 Dollar“, erklärt Hussy. Im laufenden Jahr sei auch Gold durch einen allgemeinen Risikoabbau über alle Assetklassen hinweg zurückgefallen. Doch profitiere Gold von einer strukturell höheren Inflation.
Beim Dollar geht Sentix von einer Wende aus. Zur Zeit profitiere die US-Valuta von der großen Zinsdifferenz gegenüber Yen und Euro. Aber wenn jetzt auch die EZB die Zinsen anhebe und mehrere Schritte mache, dürften die Zinsdifferenzen kleiner werden. Im Schlepptau werde sich dann auch der Euro gegenüber dem Dollar befestigen. Schon jetzt sei übrigens festzustellen, dass mehrere US-Unternehmen durch den sehr festen Dollar Probleme hätten. Bitcoin könne sich im Moment aus taktischer Sicht erholen. „Doch bleibt Bitcoin die riskanteste Assetklasse, die es überhaupt gibt“, meint Hussy.
Am Anleihemarkt liege mit den deutlichsten Kursverlusten im ersten Halbjahr „das Schlimmste hinter uns“. Nach der Erholung der vergangenen Woche habe sich der Markt „ausgependelt“. Gemessen an historischen Perspektiven dürfte laut Hussy das Zinsniveau relativ niedrig bleiben.
„Weichen schnell umstellen“
Doch wie ist Sentix jetzt aktuell in den vom Analysehaus gesteuerten Fonds positioniert? Im Sentix-Mischfonds habe man zuletzt bei Anleihen die Duration etwas auf rund fünf Jahre reduziert. Weiterhin sei man mit einem Anteil von rund 15% in Gold und Silber positioniert. Auch sei man Euro long und Dollar short. Bei Aktien ist Sentix derzeit long positioniert. „Dies ist aber nur taktisch, diese Positionierung werden wir nicht aufrechterhalten“, sagt Hussy. „Spätestens im Herbst, wenn nicht eher, werden wir unsere Aktienquote wieder reduzieren. Im laufenden Jahr wird es entscheidend sein, die Weichen schnell umstellen zu können.“